Männer und Frauen passen ja eigentlich nicht zusammen. Als Karen, die Protagonistin des Dramas „Karen llora en un bus" (übersetzt: „Karen weint im Bus") feststellt, dass diese Einsicht auch auf ihre Ehe mit dem Manager Mario angewendet werden kann, ist sie bereits zehn Jahre mit ihm verheiratet. In dieser Zeit ist aus Karen, die ursprünglich mehr vom Leben gewollt hat, eine Hausfrau geworden, die nichts Besonderes gelernt hat. In seinem ersten Langfilm zeichnet der kolumbianische Regisseur Gabriel Rojas Vera den Weg Karens in eine prekäre persönliche Freiheit nach – die Geschichte einer jungen Frau, die sich entschließt, aus der ihr scheinbar vorgeschriebenen Rolle auszusteigen und sich selbst zu entdecken.
Karen (Ángela Carrizosa Aparicio) verlässt ihren Mann Mario (Edgar Alexen): Sie sitzt in einem Bus und weint, sie zieht ihren Rollkoffer eine dunkle, stille Straße hinauf, sie hält einen Zettel fest in der Hand. Doch bei der billigen Pension, deren Adresse auf dem Papier steht, ist sie nicht willkommen. Erst als sie verspricht, sie werde ihr Zimmer für drei Monate im Voraus bezahlen, lässt man sie ein. Auch die Jobsuche gestaltet sich so aussichtslos, dass Karen sich von Mutter und Gatten überreden lässt, in den Ehehafen zurückzukehren – eine Fehlentscheidung. Wieder zurück in ihrer Absteige, ist die Ex-Hausfrau gezwungen, betteln zu gehen, um sich am Leben zu halten. Doch als ihr Unglück am tiefsten ist, wendet sich allmählich das Schicksal. In ihrer leichtlebigen Mitbewohnerin Patricia (María Angélica Sánchez) gewinnt Karen eine Freundin, sie lernt den netten Schriftsteller Eduardo (Juan Manuel Díaz) kennen und bekommt sogar einen Job in einer Buchhandlung angeboten...
Die Kamera bleibt dicht dran an Ángela Carrizosa Aparicio als Karen, in deren Gesicht sich hinter einer oft mühsam aufrechterhaltenen Fassade ein Panorama an Gefühlen spiegelt, das von stiller Verzweiflung bis zu gelöster Ekstase alles bereithält. Eine Traumrolle für jede Charakterdarstellerin. Die ganze Einsamkeit und Armseligkeit von Karens Start in eine neue Existenz teilt sich gleich in den ersten Szenen mit sachlicher Wucht mit. Respekt vor dem Mut dieser Frau geht über in mitfühlende Verzweiflung, wenn man im Folgenden beobachtet, wie Karen erfolglos auf Jobsuche geht. Umso größer sind dann Freude und Hoffnung, wenn sich das Blatt zum Besseren zu wenden scheint.
Gabriel Rojas Vera ist ein Mann. Das muss betont werden, denn es ist eher selten, dass ein männlicher Filmemacher es nicht nur wagt, ein psychologisches Drama so konsequent aus der Perspektive einer Frau zu inszenieren, sondern dabei auch einen derart sensiblen Blick mitbringt. Der Drehbuchautor Rojas Vera denkt einfach an alles; sogar daran, dass auch eine mittellose Frau ja irgendwann ihre Tage bekommt und sich die nötigen Hygieneartikel beschaffen muss. Der Regisseur Rojas Vera wiederum ist ganz auf Seiten seiner Protagonistin, als sie beim Damenbindendiebstahl im Supermarkt erwischt wird. Er zeigt die kurze Szene der Konfrontation Karens mit dem Ladenmanager als zweideutige Begegnung, in der sich die unterschwellige, dem Machtgefälle innewohnende sexuelle Bedrohung letztlich in eine Geste barscher Menschlichkeit auflöst.
Der Autor und der Regisseur schließlich sind brillant darin, die Dinge zu zeigen, indem sie eben nicht gezeigt werden. Manches ist nicht so, wie es scheint, und vieles darf einfach rätselhaft bleiben. Wenn Karen verzweifelt schluchzend am Busbahnhof sitzt und von mitleidigen Passanten Geld zugesteckt bekommt – ist dann diese Verzweiflung echt, oder hat Karen ihre Bettelei zu neuer Professionalität geführt? Immerhin haben wir sie beim Flirt mit dem Dramatiker Eduardo erzählen hören, dass sie für ihr Leben gern Theater spielen würde. Rojas Vera versagt sich und uns das Eindeutige, gerade dadurch ist diese Emanzipationsgeschichte so wirkungsvoll und wahrhaftig – bis zum Ende.
Fazit: Gabriel Rojas Vera hat einen subtilen, intelligenten Film über eine Frau gedreht, die sich aufmacht, die ihr gesetzten Grenzen zu überwinden. „Karen llora en un bus" ist Entwicklungsgeschichte und psychologisches Drama gleichzeitig - und dabei absolut kitsch- und pathosfrei.