Schule nervt! Und doch blicken nicht wenige junge Erwachsene nostalgisch auf ihre Schulzeit zurück. So leicht es war, im Mikrokosmos des Schulalltags eine Identität zu behaupten, so schwer wird es fortan, seinen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Wer keinen höheren Bildungsstand anstrebt und sich direkt ins Berufsleben stürzt, für den sind persönliche Belange oft das geringste Problem. Schnell sieht man sich einer unfairen Wirklichkeit gegenüber, in der jeder ersetzbar ist und deren Regeln man lieber schnell lernt, um nicht unterzugehen. In seinem Debütfilm „Die Ausbildung" schickt Dirk Lütter seinen jungen Helden durch genau diese Situation und zeichnet in seinem Drama ein erschreckendes Bild von einer kalten Mentalität, in der ein jeder Mensch zum Wolf des anderen werden kann. „Die Ausbildung" ist ein unangenehmer Film – und eine lohnende Herausforderung!
Gerade hat Jan (Joseph K. Bundschuh) die Hälfte seiner Call-Center-Ausbildung hinter sich gebracht. Will er übernommen werden, muss er jedoch an sich arbeiten und seine Teamfähigkeit ausbauen. So recht scheint er nicht zu wissen, warum er sich täglich mit dem Headset in der sterilen Büro-Etage niederlässt. Wahrscheinlich, um sich Statussymbole wie Handys und ein Auto leisten zu können. Vielleicht aber auch, weil seine Mutter Marianne (Anja Kaul) Betriebsrätin der Firma ist. Mit erzwungener Disziplin schlafwandelt er durch seinen Alltag, in den ein wenig Leben kommt, als er die Zeitarbeiterin Jenny (Anke Retzlaff) kennenlernt. Derweil wird Jan von seinem Vorgesetzten Tobias (Stefan Rudolf) angehalten, die ältere Angestellte Susanne (Dagmar Sachse) im Auge zu behalten. Jan folgert, dass Susanne wegrationalisiert werden soll und er eine Schlüsselrolle dabei spielt. Seinen Schuldgefühlen zum Trotz wird er immer mehr zum Teil einer mitleidlosen Maschinerie...
Mit „Die Ausbildung" schließt Lütter den Kreis zwischen intimer Adoleszenz-Geschichte und dringlichem Gesellschaftsporträt. Jan, den Joseph K. Bundschuh als nahezu lethargische Charakter-Leerstelle anlegt, ist Platzhalter für eine gesamte Generation, die ohne Konstanten und Verantwortung ins Berufsleben einsteigt. Von Anfang an macht man ihm klar, dass ein harsches Klima herrscht und jeder ersetzbar ist. In dieser Atmosphäre der permantenten Zukunftsangst und des opportunistischen Untertanengeists gehen nach und nach Skrupel verloren und auch wenn er sich nicht darum reißt, zum bedenkenlosen Mitläufer zu werden, so tut er es doch aus Mangel an Alternativen, Vorbildern und Perspektive. In Lütters Deutschland 2011 ist Produktivität auch im mittelständischen Familienleben die oberste Maxime.
Streckenweise gleicht „Die Ausbildung" dabei Christoph Hochhäuslers „Falscher Bekenner". In beiden Filmen geht es um jugendliche Antihelden, welche sich in einer Welt behaupten müssen, die nicht auf sie gewartet hat und die ihnen keine identitätsstiftende Reibungsfläche bietet. Wo Hochhäusler jedoch noch künstlerische Wege beschritt und seinem ähnlich angelegten Protagonisten imaginäre Fluchtwege aus dem trostlosen Alltag ließ, verfolgt Lütter eine Erzählstrategie des mechanischen Trotts. Einstellung für Einstellung; Szene für Szene und Tag für Tag findet sich Jan in den gleichen Situationen und konfrontiert mit derselben Leere wieder. Die Bilder gleichen einander auf frappante Weise und spiegeln in ihrer lähmenden Statik die Lebenssituation des Protagonisten wieder.
Was leicht zu einer staubtrockenen Angelegenheit hätte werden können, entwickelt jedoch bald einen hypnotischen Reiz. So sehr Lütter sein Publikum formell auf Distanz zum Leinwandgeschehen hält, so interessant und unangenehm berührend verläuft Jans emotionale Entwicklung, die zwar keineswegs in Niederträchtigkeiten gipfelt, wohl aber in moralischer Verrohung. Die Darsteller treten allesamt in den Dienst dieser sozialkritischen Beobachtung – hier spielt sich niemand in den Vordergrund, stattdessen schaffen Lütter und sein Team Figuren, die man nicht mögen muss, um sich in ihnen wiederzuerkennen. Während Hauptdarsteller Bundschuh in sachten Gesten das leise Aufflackern von Skrupel und Zweifel einfängt, wirken viele andere Darsteller rollengerecht wie Lämmer vor der Schlachtbank.
Auch in der Beziehung zur Kollegin Jenny setzt sich die Ausweglosigkeit fort. Zwischen ihnen mag sich eine Liebe entwickeln, doch auch die wird jederzeit von den höheren Mächten der Rationalisierung und des Drucks überschattet. In Stefan Rudolfs dezenter Darstellung des Charakterschweins Tobias findet sich sogar ein Musterbeispiel für die Kaltschnäuzigkeit der „Macht". Aalglatt manipuliert er sich durch den Betrieb und versteht es von vornherein, den ungeschliffenen Jan zu instrumentalisieren. Doch auch er ist nur ein Auswuchs eines viel größeren Problems – und so ersetzbar wie alle anderen. „Die Ausbildung" liefert keine einfachen Antworten, sondern öffnet das Tor zu einem moralischen Labyrinth, aus dem kein Weg hinaus führt.
Fazit: „Die Ausbildung" ist ein anspruchsvolles Drama-Kleinod mit unzugänglichen Protagonisten, die den Problemen ihrer Welt und ihres Lebens mit großer Sprachlosigkeit begegnen – das macht die Lebens- und Zeitgeistnähe von Dirk Lütters Debüt aus.