Als sich Jorge Rafael Videla im Argentinien des Jahres 1976 an die Macht putschte, war Paula Markovitch noch zu jung, um verstehen zu können, dass jedes ihrer Worte über Leben und Tod ihrer links-oppositionellen Familie entscheiden könnte. Mehr als drei Jahrzehnte später ist Markovitch mit ihrem Spielfilmdebüt „El Premio" im Wettbewerb der Berlinale 2011 vertreten. Der autobiographische Rückblick begeistert mit subtiler Bildsprache und einer tollen Jungdarstellerin, vor allem aber damit: „El Premio" kommt ohne Bösewichter, ohne Schreckensbilder und ohne Schuldzuweisungen aus. So konzentriert Markovitch die Befindlichkeit ihres Leinwand-Alter Egos Cecilia ergründet, so empathisch bleibt ihr Blick für die Anderen; für die Menschen, zwischen denen sie damals aufgerieben wurde. Mit diesen Qualitäten dürfte „El Premio" alles andere als ein Außenseiter im Rennen um den Bären sein.
Es war einen Versuch wert, trotzdem sieht die siebenjährige Cecilia (Paula Galinelli Hertzog) schnell ein, dass sie mit Rollschuhen am Strand nicht weit kommt. Rein gar nichts passiert hier, in dem baufälligen Küstenbunker, den sie mit ihrer Mutter Lucia (Laura Agorreca) bezogen hat. Die beiden sind untergetaucht, das Schicksal des Vaters im Widerstand ist ungewiss. Immerhin, gleich hinter den Dünen liegt eine kleine Dorfschule, in der Cecilia wieder Anschluss findet, insbesondere bei ihrer Klassenkameradin Silvia (Sharon Herrera). Die Notlüge über Beruf und Gesinnung der Eltern hat sie endlose Male einstudiert. Doch als die linientreue Lehrerin Rosita (Viviana Suraniti) ihre Klasse für einen Schreib- und Malwettbewerb im Auftrag des Militärs fit macht, verliert die bestätigungshungrige Cecilia den Ernst der Lage aus den Augen...
Paula Markovitchs filmische Aufarbeitung einer Kindheit im Schatten der Videla-Diktatur ist so fein ausbalanciert, als hätte die Debüt-Regisseurin allen Zorn, alles Traumatische integriert und aufgelöst. Zumindest hat sie derartiges aus "El Premio" herausgehalten. Markovitch erzählt bemerkenswert ausgewogen - emotional, aber nie sentimental; differenziert, aber nie belehrend; kraftvoll, aber nie dick aufgetragen. Die zentrale Einsicht ist hier, dass Schuldfragen kein tieferes Verständnis ermöglichen. Wenn Silvia ihre beste Freundin Cecilia an die kinderliebe, aber auf staatstragende Disziplin pochende Lehrerin verpetzt, weil die einem Jungen beim Mathetest ausgeholfen und der Klasse damit eine Kollektivstrafe eingehandelt hat, ist klar: Hier handelt niemand böswillig, sondern immer nur den Möglichkeiten entsprechend.
Die Welt, die sich für Cecilia zwischen Stranddünen und Schulbau, zwischen grau und grau, erschöpft, lässt wenig Spielraum für Fehler. Sie ist so dissonant wie die verzogenen Gitarren- und Klavierklänge, die einen gespenstischen Soundtrack bilden. Es sind politische Kräfte am Werk, die Cecilia nicht durchschaut, die auf sie wie Naturgewalten wirken müssen. Cecilia, die sich verspielt vom mächtigen Strandwind hin- und herschieben lässt, wird auch zwischen ihrer Familie und dem Wunsch nach sozialer Anerkennung von außerhalb zerrieben. Wie das wilde Meer eines Tages in Flutschüben in den Bunker drängt, ist auch das letzte Refugium am äußersten Rand Argentiniens nicht mehr sicher.
„El Premio" steckt voller Augenblicke, die gerade durch Markovitchs unaufdringliche Inszenierung berühren. Eben noch sind Cecilia und Silvia im verspielten Dialog über Piraten vertieft, im nächsten Moment vergräbt Lucia kompromittierende Schriften - eben wie einen Seeräuberschatz. Auf Cecilias Wunsch, auch etwas verbuddeln zu dürfen, kann ihre unter Starkstrom stehende Beschützerin nur noch mit einem resignierten Fauchen reagieren. Dieses manchmal lautstarke, oft stille Ringen zwischen Mutter und Tochter wird von Laura Agorreca und Paula Galinelli Hertzog mitreißend gemeistert. Hertzogs Cecilia ist Kind und bleibt Kind, keine zu gestelzte Drehbuchzeile zerstört den Eindruck. Markovitch führt ihr junges Alter Ego sicher durch „El Premio": So sicher, dass eine Auszeichnung im Berlinale-Wettbewerb 2011 allemal verdient wäre.