Marie-Antoinette hat schon die Fantasie ihrer Zeitgenossen beflügelt, sie erlebte tiefe Verehrung und empörte Verachtung. Die Habsburgerin, die durch Dynastien-Heirat 1774 zur Königin von Frankreich wurde und wie ihr Gatte Ludwig XVI. 19 Jahre später unter der Guillotine der Revolutionäre endete, ist heute noch unter Historikern umstritten, für Schriftsteller und Filmemacher bleibt ihr Leben weiterhin eine Fundgrube. Die Autorin Chantal Thomas fand 2002 eine besonders originelle Perspektive, um von der Monarchin und ihrer Epoche zu erzählen: Der Roman „Leb wohl, Königin" ist aus der Sicht der Vorleserin Marie-Antoinettes verfasst. Mit Benoît Jacquots Verfilmung dieses preisgekrönten Buchs über die letzten Tage der Protagonistin am Hof der Königin in Versailles nach dem Sturz der Bastille wurde die Berlinale 2012 eröffnet - und mit seiner Mischung aus Prunk und Zerfall, Ritual und Reflexion, Liebe und Politik, Stillstand und Aufbruch ist das Historiendrama „Leb wohl, meine Königin" ein ebenso würdiger wie anregender Auftakt.
Die junge Sidonie Laborde (Léa Seydoux) ist eine der Vorleserinnen der Königin Marie-Antoinette (Diane Kruger) am Hof von Versailles. Am 14. Juli 1789 ist dort auf den ersten Blick noch alles wie gewohnt, Sidonie liest mit ihrer bewunderten Herrin einige Zeilen eines Stücks von Marivaux und feiert abends mit ihrer Freundin Honorine (Julie-Marie Parmentier) und anderen höfischen Bediensteten ein fröhliches Fest. Am 15. Juli kursiert dann ein unerhörtes Gerücht in den zahllosen Gemächern und endlosen Korridoren des Schlosses: Jemand habe den König (Xavier Beauvois) mitten in der Nacht geweckt. Schließlich spricht sich auch der Grund für diese nie dagewesene Ruhestörung herum. Es heißt, das Volk habe die Bastille in Paris gestürmt. Sidonie und ihre Freunde können die Tragweite der Entwicklung kaum überblicken, doch dann vertraut ihr Marie-Antoinette an, dass sie zu fliehen gedenkt. Die Königin, die sich an der Spitze einer Todesliste der Revolutionäre befindet, ist verzweifelt. Am meisten Kummer bereitet ihr jedoch die drohende Trennung von der geliebten Freundin Gabrielle de Polignac (Virginie Ledoyen). Die Monarchin schmiedet einen Plan und macht Sidonie zu ihrer Komplizin...
Marie-Antoinette ist nicht die Hauptfigur von „Leb wohl, meine Königin", aber sie ist das Zentrum eines in sich geschlossenen Universums. In Versailles ist die Gunst des Königs oder der Königin die wertvollste Währung. So entzünden sich an „der Österreicherin" - wie sie wegen ihrer in französischen Augen nicht ganz unproblematischen Herrkunft auch oft genannt wurde - nicht nur die Gemüter der Revolutionäre, an ihr sind auch der Tagesablauf sowie die Hoffnungen und Träume der Protagonistin ausgerichtet. Die deutsche Schauspielerin Diane Kruger („Inglorious Basterds", „Unknown Identity") ist nicht nur wegen ihres wunderbar passenden leichten Akzents eine vortreffliche Marie-Antoinette, die ganz anders ist als die von Kirsten Dunst, die in Sofia Coppolas „Marie Antoinette" eine Art It-Girl des 18. Jahrhunderts verkörperte. Mit einer Mischung aus Grazie, Hochmut, Trotz, Verletztlichkeit und Wankelmut zeichnet Kruger das schillernde Porträt einer schwer greifbaren Persönlichkeit – und trotz Spuren von Unreife und Versuchen von Vertraulichkeit verliert sie nie einen Rest von Unnahbarkeit: Die Rolle der Monarchin geht stets über den Menschen hinaus, der in ihr steckt.
Jacquot verliert sich nicht in höfischen Ritualen, hat aber ein genaues Auge für die Etikette in Versailles. So wird die fast berauschende Wirkung, die die körperliche Nähe der Königin auf Sidonie ausübt, erst durch die strikte Distanz verständlich, die ihr sonst auferlegt ist. Sie meint es ernst, wenn sie sagt, dass sie für ihre Königin auch die weitesten Reisen auf sich nehmen würde. In ihrem Feuereifer stürzt die junge Vorleserin gleich bei zwei Gelegenheiten über ihren Kleidersaum, als sie eilig den weiten Weg zu den Gemächern Marie-Antoinettes zurücklegt. Léa Seydoux‘ („Mission: Impossible - Phantom Protokoll", „Midnight in Paris") Sidonie ist bei all dem keineswegs eine devote Dienerin, sondern eine junge Frau mit starkem Willen, die den Avancen eines aufdringlichen Gondoliere genauso widersteht wie der Neugierde ihrer Freundinnen. So ist auch ihre Bewunderung für die Königin nicht blind, aber echt. Wenn sie sich auf Geheiß ihrer Herrin entkleiden muss, hält sie deren Blick stand, vergisst ihre Scham und aus ihren Augen spricht eine Mischung aus Stolz, Traurigkeit und Sehnsucht.
Mit Virginie Ledoyen („The Beach", „8 Frauen") als Madame de Polignac wird das Dreieck weiblicher Sehnsüchte vervollständigt. Dabei kommt in der Welt von Versailles, wo die Andeutung regiert, die Umarmung der Favoritin durch die Königin vor den Augen der Höflinge schon einer Erschütterung gleich. Und Jacquot macht diesen Aufruhr auch für uns spürbar, aus scheuen Blicken und wenigen Worten entwirft er ein Herzensdrama, das durch die besonderen historischen Umstände nicht etwa banalisiert, sondern intensiviert wird. Das Schloss von Versailles (gedreht wurde großteils am Originalschauplatz) steigt dabei zu einem weiteren Protagonisten auf und erweist sich auf den zweiten Blick als architektonisches Monstrum. Nicht nur die Ratten zeugen vom drohenden Untergang, aber die Nachrichten aus Paris werden zunächst nicht ernstgenommen. Die Bastille ist nicht einnehmbar – und die Titanic unsinkbar...
Bereits in „Sade" hat Benoît Jacquot überzeugend die große Historie und die kleinen intimen Geschichten zusammengebracht, in „Leb wohl, meine Königin" gelingt ihm dies erneut. Die Dimension eines wahrlich welterschütternden Ereignisses wird hier dadurch deutlich, dass der Schock erst ganz allmählich eintritt, die Revolution und das Ende der Monarchie sind für die Figuren des Films noch gar nicht recht vorstellbar. Indem an die Ungeheuerlichkeit des in der Rückschau Unvermeidlichen erinnert wird, bekommt „Leb wohl, meine Königin" durchaus eine aktuelle Bedeutung, seine Modernität liegt aber in der Hauptfigur. Mit Sidonie fügt Jacquot seiner Reihe starker Frauenfiguren (von Virginie Ledoyen in „La Fille seule" bis Isabelle Huppert in „Villa Amalia"), die hartnäckig und auf unerwartete Weise ihren eigenen Weg gehen, ein weiteres Musterexemplar hinzu.
Fazit: Faszinierendes Historiendrama in der pompösen Kulisse von Versailles im Juli 1789: Die Vorleserin der Königin erlebt das Ende einer Welt.