Jonathan Sagall hat einen langen Weg zurückgelegt - von seinen Anfängen als Schauspieler in der Sexklamotte „Eis am Stiel" bis zur Berlinale 2011, die den Regisseur mit seinem Hochglanz-Psychodrama „Odem" in den Wettbewerb eingeladen hat. Das lässt sich durchaus als politische Entscheidung der Festivalprogrammierer lesen, immerhin erzählt der jüdische Filmemacher hier die Leidensgeschichte zweier Palästinenserinnen, die den Brennpunkt Ramallah nach einem traumatischen Ereignis gen England verlassen. In der Theorie ist „Odem" eine kritische Bestandsaufnahme der Verhältnisse im Westjordanland, leider aber fügen sich die Fragmente des non-linearen Puzzle-Films nicht zu einem schlüssigen Ganzen. Dafür hält sich Sagall zu lange mit Versatzstücken des erotischen Thrillers auf, nur um die Aufklärung des großen Mysteriums - was trieb die zwei Protagonistinnen zur Flucht ins Ausland? - schlussendlich als genretypischen Twist präsentieren zu können.
Seit 13 Jahren lebt Lara (Clara Khoury) in London, die permanenten Seitensprünge ihres Gatten Michael (Daniel Caltagirone) nimmt sie stillschweigend in Kauf. Doch als ihre Jugendfreundin Inam (Nataly Attiya) auftaucht, muss Lara um die oberflächliche Harmonie im neureichen Suburb fürchten, denn mit Inam teilt sie ein Geheimnis aus ihrer Jugend: Als Teenager schlichen sich die beiden Frauen damals in Jerusalem heimlich ins Kino, wo sie zwei jungen israelischen Soldaten begegneten. Die Geschehnisse dieser Nacht veränderten die Leben der beiden jungen Frauen tiefgreifend. Noch ist Lara nicht klar, weshalb Inam überhaupt zurückgekehrt ist. Doch ihre eigene Flucht vor der Vergangenheit ist allein mit dem Auftauchen der Freundin bereits gescheitert...
An spannenden Ideen mangelt es Jonathan Sagalls Film nicht. Und das macht „Odem" so problematisch: Die vielen kleinen Episoden und großen Themen sprengen die knappe Spieldauer von 90 Minuten, ohne jeweils befriedigend ausgeführt und zu Ende erzählt zu werden. Im Vordergrund steht die gänzlich unpolitische Leidens- und Liebesgeschichte Laras. Schnell wird deutlich, dass die qualvolle Sehnsucht nach Inam hinter Laras bürgerlicher Fassade nie zur Ruhe gekommen ist. Inam wiederum wird als Femme Fatale eingeführt, die aus unzweideutigen Gründen auf Unterwäsche verzichtet - Sharon Stone und „Basic Instinct" liegen für einen forcierten Augenblick ganz nahe - und ihre Jugendfreundin am ausgestreckten Arm verhungern lässt.
Dass die beiden Frauen Probleme haben, liegt auf der Hand. Umso ärgerlicher, dass Sagall Laras Alkoholismus und Inams krankhafte Promiskuität immer wieder überdeutlich herausstellt. So verkommen nicht wenige Sequenzen zur ermüdend-redundanten Regie-Fingerübung. Die knisternd-erotischen Annäherungen von Lara und Inam, immer zwischen Leidenschaft und Aggression, zählen wiederum zu den starken Momenten von "Odem". Überzeugend sind hier nicht nur Clara Khoury und Nataly Attiya in den Hauptrollen. Auch die hervorragend besetzten Jungdarstellerinnen Ziv Weiner und Moran Rosenblatt, die Lara und Inam in den Rückblenden verkörpern, meistern das sexuelle Verwirrspiel mit Bravour.
Was aber hat es mit dieser so zentralen Begegnung der beiden jungen Frauen mit den israelischen Grenzposten auf sich? „Eine eindeutige Wahrheit gibt es nicht", meint Lara, die sporadisch als Off-Erzählerin fungiert. Die gibt es dann aber sehr wohl. Die Auseinandersetzung mit der Subjektivität der Erinnerung bleibt pure Behauptung. Die späte Klarstellung der traumatischen Erfahrung stellt das Verhältnis zwischen Lara und Inam auf den Kopf; plötzlich passt all das Hin und Her zwischen den Frauen nicht mehr zum Finale und erweist sich als schlichtes Ablenkungsmanöver. Damit verwässert Sagall auch die politische Komponente, die so nie richtig zur Geltung kommt. Im Berlinale-Wettbewerb ist "Odem" keineswegs fehlplatziert, zum wirklich überzeugenden Beitrag fehlt aber schlichtweg der thematische Fokus.