Der chinesische Regisseur Haolun Shu wirft in seinem ersten Spielfilm „Shanghai, Shimen Road“ einen Blick zurück in seine eigene Vergangenheit. Er schildert das Leben in einem „Shikumen“ in Shanghai. Bei diesen handelt es sich um eine einstmals stark verbreitete Art von oft in rotem Backstein erbauten Reihenhäusern, die heute im Zuge der rasanten Stadtentwicklung immer mehr verschwinden. In seinem Film zeigt das Treiben in einem solchen Haus als Mikrokosmos der damaligen chinesischen Bevölkerung. Zugleich erzählt er eine schöne Coming-of-Age-Geschichte und das Portrait einer chinesischen Gesellschaft in einer Zeit des Übergangs.
Shanghai im Sommer 1988. Der siebzehnjährige Xiaoli (Ewen Cheng) lebt gemeinsam mit seinem strengen Großvater in einem Shikumen in der Shimen-Straße. In dem Haus teilen sich mehrere Parteien die Küche und andere Bereiche. An ein Privatleben ist kaum zu denken. In der Schule stehen Zucht und Ordnung auf dem Plan, regierungskritische Äußerungen werden nicht geduldet. Doch Tagträumer Xiaoli ist ohnehin so ziemlich alles egal. Er interessiert sich nur für die Kamera, die ihm seine in Amerika lebende Mutter geschenkt hat, und für Mädchen. Besonders hat es dem Jungen seine schöne Nachbarin Lanmi (Xufei Zhai) angetan, die auch sein bevorzugtes Foto-Motiv ist. Seine aus Peking zugezogene Klassenkameradin Lili (Lili Wang) interessiert sich wiederum sehr für Xiaoli. Sie öffnet ihm den Blick für die größeren gesellschaftlichen Ereignisse, wie für die Studentenunruhen in der Hauptstadt. Das ganze Land scheint im Umbruch zu sein. Doch wohin wird die Entwicklung gehen?
Das in „Shanghai, Shimen Road“ gezeigte Wohngebäude gehört der Familie von Regisseur Haolun Shu. Einer der Hauptantriebe hinter dem Dreh war für den Filmemacher die Möglichkeit, diese Art von Viertel zu portraitieren, so lange ein solches überhaupt noch existiert. Die meisten Shikumen sind bereits abgerissen und durch 50-stöckige Hochhäuser ersetzt worden. Diese Tatsache erscheint umso trauriger, als Shu diese Viertel als äußerst pittoresk und romantisch darstellt. Roter Backstein und grüne Pflanzen dominieren das Bild. Das Leben erscheint als sehr beengt, zugleich aber auch als sehr gemeinschaftlich. Man hilft sich gegenseitig, beobachtet jedoch auch genau, was der Nachbar treibt.
Zurückhaltend zeigt der Regisseur daneben eine ganze Reihe gesellschaftlicher Gegensätze und Widersprüche auf. Die Shimen Road ist die Welt der kleinen Leute. Bereits der Betrieb in einem gehobenen Hotel in der Stadt erscheint diesen Menschen als eine völlige mondäne Welt, das Trinken einer Coca-Cola als ein kleiner Gipfel an Luxus und Dekadenz. Der Drill in der Schule verdeutlicht das Wirken der Staatsgewalt, die nur am Heranzüchten treuer Untertanen interessiert ist. Zugleich spielt die Handlung in einer Periode, in der sich für einen kurzen Moment ein Zeitfenster öffnete, innerhalb dessen eine radikale demokratische Umgestaltung des Landes möglich erschien.
Doch „Shanghai, Shimen Road“ ist kein politischer, sondern ein poetischer Film, der einen diese Welt gemeinsam mit den Augen und der Kamera des so sensiblen wie naiven Xiaoli entdecken lässt. Xiaoli ist es beispielsweise relativ egal, womit genau die schöne Lanmi ihren Lebensunterhalt verdient, solange er einfach ein paar schöne Fotos von ihr machen kann. Mit den dramatischen politischen Tagesereignissen beschäftigt er sich hingegen erst, als die quirlige Lili ihn damit bekannt macht. Das Ergebnis ist ein sympathisches Kleinod, das die unbekümmerte Leichtigkeit seines Hauptprotagonisten verströmt.
Fazit: „Shanghai, Shimen Road“ ist ein schöner kleiner Film der leisen Beobachtungen, der das Leben in einem Shanghai der 80er-Jahre zeigt, das heute nicht mehr existiert.