Neuseeland wird dem breiteren Kinopublikum wohl noch lange als Drehort von Peter Jacksons grandioser Herr der Ringe-Trilogie in Erinnerung bleiben, prägen die Landschaftsaufnahmen das mittlerweile weit verbreitete Bild von Mittelerde doch mindestens genauso stark wie die Effekte aus dem Hause Weta. Es wäre aber schade, würde Neuseeland unter Filmfreunden auf ewig lediglich mit Peter Jacksons Bombastkino in Verbindung gebracht werden. Die kleine Tragikomödie „Boy“ etwa, die bei der Berlinale 2010 in der Sektion Generation Kplus zu sehen ist, verdient jedenfalls über den vergleichsweise überschaubaren Kreis von Festival-Zuschauern hinaus ein größeres Publikum. „Boy“ ist der zweite Langfilm von Taika Waititi, der 2005 durch den oscarnominierten, 12-Minüter „Two Cars, One Night“ zum ersten Mal öffentliche Aufmerksamkeit erregte und der auch bei seinem neuen Film in der Dreifachfunktion als Regisseur, Drehbuchautor und Nebendarsteller wieder alle kreativen Zügel fest in der Hand hält – mit Erfolg, denn „Boy“ ist eine gut gespielte, witzige, stellenweise skurrile und melancholische Tragikomödie mit sympathischen Charakteren.
Wir schreiben das Jahr 1984. Im ländlichen, an der Ostküste von Neuseeland gelegenen Waihau Bay lebt ein elfjähriger Junge – schlicht „Boy“ (James Rolleston) genannt – zusammen mit seinem kleinen Bruder Rocky (Te Aho Eketone-Whitu), diversen Cousinen und Cousins sowie einer Tagesmutter, nachdem die leibliche Mutter bei Rockys Geburt starb. Beide Brüder verfügen über eine ungemein lebhafte Fantasie: Rocky denkt, dass er sich im Besitz von Superkräften befindet (die wiederum seine Mutter getötet hätten), während Boy ständig Ruhmesgeschichten über seinen abwesenden Vater Alamein (Regisseur Taika Waititi) erzählt. In Boys Vorstellungswelt ist Alamein ein Kriegsheld, ein gewiefter Gefängnisausbrecher und ein Tänzer, der es sogar mit Boys großem Vorbild Michael Jackson aufnehmen kann. Leider decken sich Boys Fantasien jedoch so gar nicht mit der Realität - was spätestens dann deutlich wird, wenn der wegen eines Raubüberfalls eingebuchtete Vater aus dem Knast frei kommt, zur Familie zurückkehrt und dort unter tatkräftiger Mithilfe dreier Mitglieder seiner „Gang“ damit beginnt, auf der Suche nach einer verbuddelten Beute tagelang eine Wiese umzugraben…
Die an sich ernsten Themen des Films, wie der Vater-Sohn-Konflikt, das Zerplatzen kindlicher Wunschvorstellungen und der Umgang mit Verlusten, werden mit viel Dialog- und Charakterwitz verpackt. Wenn Boys in eine pseudo-coole Lederjacke gekleideter Vater vor dem Jungen und dessen Freunden angeben will und deswegen probiert, sein Auto betont lässig durch die Scheibe zu besteigen und bei dieser Aktion kläglich versagt, dann ist das vordergründig ziemlich komisch. Doch dahinter offenbart sich eine Persönlichkeit, die in ihrer geistigen Entwicklung nie über das Stadium eines halbwüchsigen Raufbolds hinausgekommen ist und die dem Sohn daher trotz aller beidseitig vorhandener Zuneigung weder Vorbild noch Erzieher sein kann. So probiert Alamein vergeblich, seinen Kindern mit einer Mischung aus zur falschen Zeit gegebenen Ratschlägen und dem zwanghaften Versuch, die Kumpelrolle zu erfüllen, näher zu kommen: Einmal ermahnt der Vater den noch nicht im Teenager-Alter angekommenen Boy allen Ernstes, bloß nicht seinen etwa gleichaltrigen Schwarm zu schwängern. Ein anderes Mal bittet der Papa den Sprössling, in ihm doch bitte einen Bruder zu sehen. Dennoch hält Boy im Gegensatz zu Rocky die idealisierte Vorstellung des saufenden und raufenden Papa tapfer weiter aufrecht und beginnt darüber hinaus sogar, sich in seinem Aussehen und Auftreten mehr und mehr am Erzeuger zu orientieren.
Die Schauspieler tragen wesentlich zum Gelingen des Gesamtwerks bei. James Rolleston gefällt als lebensfroher und durch die Umstände zu frühem Verantwortungsbewusstsein gezwungener Protagonist, und auch Te Aho Eketone-Whitu macht seine Sache als zurückgezogener und träumerischer kleiner Bruder wirklich gut. Wohlgemerkt: Die beiden Jungschauspieler standen für „Boy“ das allererste Mal in ihrem Leben vor einer Kamera. Wesentlich mehr Erfahrung einbringen konnte hingegen Taika Waititi, der nicht nur als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler, sondern zusätzlich auch noch als Comedian aktiv ist. Das Multitalent spielt den Vater als zwar oft lächerlichen, im Grunde jedoch liebenswürdigen Kindskopf und meistert dabei auch die ernsteren Momente problemlos.
Während es bis zur Mitte des Films nur vereinzelt traurigere Szenen gibt, kippt das Geschehen im letzten Drittel endgültig Richtung Drama. Das ist dem Thema sicherlich angemessen und funktioniert für sich betrachtet auch, aber insgesamt gerät das Verhältnis von Tragik und Komik ein wenig aus dem Gleichgewicht. Bedauerlich ist auch, dass die reizvolle Thematik um Boys Michael-Jackson-Verehrung nicht intensiver behandelt wird. Die erwähnten Einschränkungen trüben das Filmerlebnis jedoch kaum und „Boy“ bleibt nicht nur durch seinen Witz im Gedächtnis. Auch die Inszenierung trägt zum charmanten Gesamteindruck bei. Besonders die Visualisierungen von Rockys „Superkräften“ als von Kinderhand gezeichnete Comics und die absurd-überzeichneten Szenen von den angeblichen Heldentaten des Vaters sind gelungen.
Fazit: Wenngleich die Mischung aus Tragik und Komik noch ein bisschen besser ausbalanciert hätte werden können, überzeugt „Boy“ dank guter Darstellerleistungen sowie einer originellen Inszenierung als rundum gelungene Tragikomödie mit Herz und Humor.