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    Zeit zu leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Zeit zu leben
    Von Melanie Lauer

    „Schuster, bleib bei deinen Leisten", dieser mahnende Ruf liegt auch in Hollywood schnell in der Luft, wenn jemand Ambitionen hat, über den Tellerrand seines Spezialgebiets hinauszuschauen. Das ist selbst bei einem längst arrivierten Drehbuchautoren und Produzenten wie Alex Kurtzman nicht anders, schließlich hat der Erfolg immer auch Neid und Missgunst im Schlepptau. Aber der auf High-Tech-Action abonnierte Kurtzman, der an den Skripts von Blockbustern wie „Star Trek", „Transformers" und „Mission Impossible III" beteiligt war sowie Fernsehserien wie „Fringe" und „Alias" in federführender Funktion mitprägte, trotzt allen Unkenrufen. Mit dem Familiendrama „Zeit zu leben" gibt er nicht nur ein überzeugendes Debüt als Kinofilmregisseur, sondern beweist sich auch in einem Genre am anderen Ende des Krawall-Spektrums und zeigt ein feines Gespür für leisere Töne. Mit großer Souveränität erzählt er eine berührende Geschichte über Leben, Lügen und Liebe.

    Sam (Chris Pine) ist jung, attraktiv und eigentlich auch ein erfolgreicher Geschäftsmann. Doch sein letzter Deal ist geplatzt und nun droht ihm eine fette Klage. Dann stirbt sein Vater – ein bedeutender, aber rücksichtsloser Musikproduzent, zu dem Sam nie ein gutes Verhältnis hatte. Der junge Mann reist von New York zu seiner Mutter Lillian (Michelle Pfeiffer) nach Los Angeles und was er dort erfährt, ändert für ihn alles: Der Vater hat die Existenz einer zweiten Familie vor ihm verheimlicht und im Testament verfügt, dass Sam seiner Halbschwester Frankie (Elizabeth Banks) und ihrem elfjährigen Sohn Josh (Michael Hall D'Addario) ein Erbe von 150.000 Dollar in bar überbringen soll. Widerwillig macht sich der jahrelang Getäuschte, der das Geld selbst gut gebrauchen könnte, auf den Weg zu seinen unbekannten Verwandten. Er lernt sie schnell gut kennen und sogar lieben, aber seine wahre Identität gibt er vorläufig nicht preis. Sam muss die Beziehung zu seiner alten und zu seiner neuen Familie erst überdenken...

    Regisseur und Drehbuchautor Alex Kurtzman wagt sich mit „Zeit zu leben" an eine ebenso verzwickte wie bewegende Familiengeschichte voller Lügen und Geheimnisse – seine eigene! Er selbst fand erst im Alter von 30 Jahren heraus, dass er eine Halbschwester hat und dass sein Vater eine zweite Familie vor ihm verheimlichte. Kurtzman kennt das Gefühl, verraten und betrogen worden zu sein, also aus eigener Erfahrung und bringt es entsprechend mit großer Überzeugungskraft auf die Leinwand. Aber sein Film ist keineswegs eine bloße Abrechnung mit den Vätern, denn Sam steht seinem Erzeuger in Sachen Unehrlichkeit und Täuschung in nichts nach: Er belügt seine Kunden genau wie seine Freundin Hannah (Olivia Wilde), die nichts von den schwierigen Familienverhältnissen weiß, und nicht zuletzt seine neugewonnene Schwester. Denn auch die ahnt nichts von den wahren Zusammenhängen und kann sich über den smarten und attraktiven Mann, der urplötzlich in ihrem Leben auftaucht und sich mit ihr und Josh anfreundet, nur wundern.

    Die unausgesprochene Wahrheit treibt die Geschichte von „Zeit zu leben" an, ein einziger Satz könnte zwar alles aufklären, doch stattdessen präsentiert uns Alex Kurtzman einen zutiefst verunsicherten Mann, der nicht nur mit den Geheimnissen der Vergangenheit und den akuten Sorgen der Gegenwart, sondern auch mit seiner Zukunft ringt. Darüber verliert er nicht nur fast seine Freundin und seinen Job, sondern übersieht auch, dass er Frankie mit seiner ungeschickten Vorgehensweise keineswegs hilft. Vielmehr steuern Sam und seine Schwester geradewegs in eine Katastrophe, denn langsam fasst die Ex-Alkoholikerin Vertrauen zu dem seltsam vertrauten Fremden und entwickelt zarte Gefühle für ihn. Gefühle, die Sam so nicht bedacht hat und die so auch nicht sein dürfen.

    Diese angedeutete verbotene Liebe unter Geschwistern könnte auch aus einer täglichen Seifenoper stammen, in denen die Übertreibung bekanntlich zum Alltagsgeschäft gehört. Hier wirkt sie bisweilen arg befremdlich, insgesamt leidet die Glaubwürdigkeit der Geschichte aber kaum unter diesem erzählerischen Irrweg. Und das liegt vor allem an der außerordentlichen Überzeugungskraft des Hauptdarstellers. Chris Pine („Star Trek", „Das gibt Ärger"), der in seinen vorherigen Filmen eher großmäulig daher kam, zeigt als wütender und innerlich zerrissener Mann am Scheideweg eine erstaunliche emotionale Tiefe. Er meistert die Gratwanderung zwischen trotzigem Egoismus und echter Verlorenheit ebenso hervorragend wie sein Drehbuchautor und Regisseur Alex Kurtzman jene zwischen dramatischer Überhöhung und einfühlsamer Zurückhaltung.

    Kurtzman beweist besonders im Umgang mit den Schauspielern, dass er sich nicht nur auf ausgeklügelte Agenten- und Science-Fiction-Szenarien versteht, sondern auch über die für ein reines Charakterdrama nötige Bodenhaftung verfügt. So führt er neben Pine auch Elisabeth Banks („Ein riskanter Plan", „Zack and Miri make a Porno") als latent planlose, aber herzliche Schwester zu einer überzeugenden Leistung. Umrahmt wird das Geschwisterpaar zudem von zwei weiteren von der familiären Tragödie betroffenen Generationen: In der Rolle von Sams Mutter, die eine erhebliche Mitverantwortung an der dramatischen Zuspitzung trägt, glänzt die wieder einmal ausgezeichnete Michelle Pfeiffer („Dark Shadows", „Der Sternwanderer") und als charmant-vorlauter Junge, der nicht weiß, wohin mit seiner frühpubertären Wut, rundet der bezaubernde Michael Hall D'Addario („Sinister") die hervorragende Ensembleleistung ab.

    Fazit: Der als Action-Spezialist bekannte Alex Kurtzman zeigt mit diesem berührenden Familien-Drama, dass er auch anders kann und zeigt sein Können im Fach des einfühlsamen Schauspielerkinos.

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