Hayao Miyazaki haut noch mal ein Meisterstück raus
Von Jochen WernerDass es sich beim japanischen Animationsfilm keineswegs um bloßen Kinderkram handelt, hat sich auch im Westen längst herumgesprochen, und an dieser etwas verspätet eingetretenen Erkenntnis waren die Filme des großen, vielleicht gar größten Animeregisseurs Hayao Miyazaki nicht ganz unbeteiligt. Etliche Jahre lang waren die Meisterwerke, die Miyazaki für das 1985 gemeinsam mit Isao Takahata gegründete Studio Ghibli schuf und die in Japan längst als Klassiker galten, hierzulande gar nicht zu sehen. Erst im Zuge des weltweiten Erfolges von „Chihiros Reise ins Zauberland“, der 2002 den Goldenen Bär der Berlinale und 2003 den Oscar als bester Animationsfilm gewann, sollte sich das ändern. In den folgenden Jahren erschien nach und nach die komplette Ghibli-Filmografie auch in Deutschland, und einige herausragende Werke wie „Das Schloss im Himmel“ erlebten gar 20 Jahre nach ihrer Entstehung noch einen offiziellen deutschen Kinostart.
Wenige Jahre später schien es dann allerdings bereits so, als sei das Werk des großen, vom deutschen Kinopublikum spät entdeckten Meisterregisseurs endgültig abgeschlossen. Seinen Abschied vom Filmemachen erklärte Miyazaki 2013 nach der Fertigstellung von „Wie der Wind sich hebt“ – ein Karriereende, mit dem er nicht zum ersten Mal kokettierte, aber diesmal schien es ihm ernst. Tatsächlich dauerte es dann zehn Jahre, bis der inzwischen 82-Jährige vom Rücktritt zurücktrat, und allein die Ankündigung eines neuen Films schlug in seiner Fangemeinde ein wie eine Bombe. Ein Ereignis kündigte sich an, das zumindest in Japan auch keiner großen Werbekampagne bedurfte: Kein einziges Bild aus dem Film war vor seiner Premiere zu sehen, lediglich ein einzelnes Plakat mit dem japanischen Titel, der übersetzt soviel bedeutet wie: Wie wollt ihr leben?
Diese Frage taucht im hierzulande etwas schlichter mit „Der Junge und der Reiher“ betitelten Film an zentraler Stelle auf, es ist der Titel eines Buchs, das die im Zweiten Weltkrieg während eines Bombenangriffs auf ein Krankenhaus ums Leben gekommene Mutter ihrem Sohn Mahito hinterlässt. Der zieht mit seinem wieder verheirateten Vater – einem Fabrikanten, der Kriegswaffen herstellt und daran recht gut zu verdienen scheint – aus Tokyo aufs Land, will jedoch weder mit der Stiefmutter noch mit den neuen Mitschülern viel zu tun haben. Dieser Mahito bleibt uns ein Stück weit ein Rätsel: Mit einem Stein schlägt er sich selbst den Schädel blutig, und eine ungerichtete, ziellose Wut scheint ihn immer weiter aus der Gemeinschaft hinauszutreiben. Er riecht nach Tod, wird später einmal eine Figur zu ihm sagen, in einer der Parallel- und Alternativwelten, die wir als Publikum gemeinsam mit Mahito erkunden dürfen.
Als Portal zu diesen Welten dient ein alter Turm, der die Bibliothek eines längst verschwundenen Großonkels beinhaltet – und in den Mahito durch einen grotesk anthropomorphen Graureiher gelockt wird. Der rückt ihm immer wieder nah auf die Pelle, provoziert ihn mit krächzender, menschlicher Stimme – und offenbart bei näherer Betrachtung hinter Schnabel und Federhaube eine riesige, rote Nase sowie beeindruckende und so gar nicht vogelhafte Zahnreihen. Zunächst treffen beide als verfeindete Widersacher im Kampf um – ja, um was eigentlich? – aufeinander, doch als sie auf der Suche nach der verschwundenen, schwangeren Stiefmutter Natsuko durch den Fußboden des verwunschenen Turms hindurch in die erste der Zauberwelten dieses durchaus enigmatischen Films einsinken, finden sie sich mehr und mehr zur Zusammenarbeit gezwungen.
In der Figur des Reihers findet sich ein Grundprinzip vieler Filme Miyazakis wieder, in denen es zwar lügnerische, schalkhafte, auch destruktive und mitunter sehr angsteinflößende Wesen gibt – aber kein einziges, das ausschließlich böse ist. Auch die Antagonisten, die mitunter apokalyptische Bedrohungen verkörpern, erscheinen in Miyazakis Welten niemals von bloßer Zerstörungslust getrieben, und die Herausforderung für seine Protagonisten besteht nicht selten darin, sie in ihrer Natur und ihren Bedürfnissen zu erkennen und einen Balancezustand zwischen den Bedürfnissen Vieler (wieder) herzustellen anstatt das eine, die Gemeinschaft gefährdende Element auszusondern, als „böse“ zu verurteilen und zu bekämpfen.
Für eine solche, stets gefährdete Balance findet „Der Junge und der Reiher“ ein so schlichtes wie prägnantes Bild: ein Turm aus Bauklötzen verschiedener Formen – Würfel, Quader, Kegel, aber auch Kugeln – symbolisiert hier eine jede fragile Welt, deren Bestand stets nur für einen Tag aufs Neue gesichert werden kann. Am Ende muss Mahito sich entscheiden, entweder zum Hüter dieser Welten zu werden, ohne an ihnen teilzunehmen – oder sich wieder hineinzubegeben ins Leben, mit all seinem Chaos, dem Leid und der Unsicherheit.
„Der Junge und der Reiher“ ist zuvorderst ein Film über den Tod, und in vieler Hinsicht bleibt er ebenso opak wie der Tod selbst – vom Leben aus betrachtet. Viele Filme von Hayao Miyazaki erreichten eine große Massentauglichkeit dadurch, dass sie tiefe philosophische Fragestellungen in im besten Sinne schlichte Erzählungen einbetteten – in monumentale Fantasyepen oder auch in simple, kleine, so menschliche wie kindgerechte Erzählungen. Mit diesem großen Alterswerk jedoch verhält es sich etwas komplizierter. Auf die zentrale Frage – wie wollt ihr leben? – gibt es keine schlichte Antwort, das große Geheimnis des Todes lässt sich nicht in ein klares Bild fassen, und so bleibt manches an „Der Junge und der Reiher“ bis zum Schluss dunkel und undurchsichtig.
In vielfältigen Dimensionen schichtet Miyazaki Welten aufeinander, die mal nach rätselhaften und dann wieder nach grausig vertraut erscheinenden Regeln funktionieren – Welten, in denen hungrige Pelikane gezwungen sind, sich von ungeborenen Seelen zu ernähren, und Welten, in denen menschenfressende, monarchistische Wellensittiche von der Weltherrschaft träumen. Die Figuren, auf die Mahito und der Reiher dort treffen, sind Wiedergänger und spiegeln jene Menschen, die ihnen aus der Welt ganz oben – man scheut sich von „Realität“ zu sprechen – vertraut sind, sind aber auch in sich gebrochen. Die einzelnen Schichten in diesem Entwurf einer zerbrechlichen, vom Chaos bedrohten Welt kommen nie ganz zur Deckung, sind mit dem Verstand nie vollständig lesbar. Stets bleiben Zwischenräume, und im Zentrum sitzt ein alter Mann mit einem wackligen Turm aus Bauklötzchen.
Fazit: Das Alterswerk des großen Anime-Meisterregisseurs Hayao Miyazaki funktioniert nach anderen Regeln als viele seiner beliebten Klassiker. Die Dimensionen und Welten, die er in „Der Junge und der Reiher“ übereinander schichtet, spiegeln einander, bleiben aber in mancher Hinsicht auch bewusst rätselhaft. Man sollte also keine einfachen Antworten und Auflösungen erwarten – denn wenn man sich ganz auf seine eigenen Regeln und Logiken einlässt, offenbart sich einem hier ein an Ideen und Emotionen überreicher Kosmos.
Wir haben „Der Junge und der Reiher“ im Rahmen des Festivals Around the World in 14 Films 2023 gesehen.