Seit Jahrhunderten schon gilt Venedig als eine der romantischsten Städte der Welt. Die Palazzi und die Gondeln, die Kirchen und die Plätze, das allgegenwärtige Wasser und die unzähligen Tauben, der verschwenderische Luxus und der pittoreske Verfall, all das hat Venedig in einen elegischen Sehnsuchtsort, eine fast schon magische Projektion, verwandelt. Literaten wie Maler, Komponisten wie Filmemacher haben mit ihren Werken die Stadt mehr und mehr der Wirklichkeit entrückt und ihren morbiden Charme bis ins Mythische überhöht. Doch das sind letztlich alles schöne Lügen, die für Reisende und Touristen für die Dauer ihres Aufenthalts durchaus wahr werden können, aber kaum etwas mit der alltäglichen Wirklichkeit ihrer Bewohner gemein haben. Wie deren Leben und deren Venedig aussehen, davon will der italienische Filmemacher Carlo Mazzacurati in seiner Dokumentation „6 x Venedig" Zeugnis ablegen. Also schaut er überall dorthin, wohin sich der verklärte Blick erst gar nicht wendet. Nur verliert Mazzacurati die Stadt dabei fast noch mehr aus den Augen als all jene, die sie idealisieren.
Sechs Menschen hat Carlo Mazzacurati für sein Venedig-Porträt interviewt und auf ihren Wegen durch die Stadt begleitet, den Archivar Giovanni Galeazzi, das Zimmermädchen Roberta Zanchin, den Archäologen Ernesto Canal, den Maler Carlo Memo, den ehemaligen Dieb Ramiro Ambrosi und ein Kind, den Jungen Massimo Comin. Bei allen Unterschieden in ihren Hintergründen und Biografien ist ihnen doch eines gemeinsam: Sie gehören zum Stadtbild dazu und bleiben für Touristen und Besucher in ihm doch unsichtbar. Jeder von ihnen führt eine Art von Randexistenz. Für den Künstler Carlo Memo gilt dies sogar ganz wörtlich, seit er in ein kleines Dorf am Rande der Stadt gezogen ist. Aber auch die anderen sind eher in der Peripherie Venedigs zu Hause, auch wenn ihr Wirken die Geschicke der Stadt immer begleitet und auf gewisse Weise auch prägt.
Auf den ersten Blick scheint in „6 x Venedig" alles perfekt zusammenzupassen. Schließlich hat jeder der sechs Porträtierten seine ganz eigenen Venedig-Geschichten zu erzählen, die trotz einzelner persönlicher Details immer auch auf ein größeres Bild verweisen. So ist Roberta Zanchin nur eines von unzähligen Zimmermädchen, die tagein, tagaus in den (Luxus-)Hotels der Stadt arbeiten. Der verschwenderische Prunk des Hotels steht dabei in einem eklatanten Kontrast zu dem Leben der Bediensteten. Nur geht Mazzacurati darauf gar nicht weiter ein.
Das soziale Gefälle innerhalb der Stadt interessiert den Filmemacher anscheinend nicht im Geringsten. Mazzacurati begnügt sich mit der Rolle des Beobachters, und dabei sieht er offenbar nichts als von Gott gegebene Verhältnisse. Gelegentlich sprechen seine Protagonisten die sozialen Unterschiede zwar an, aber die Bilder, mit denen der Regisseur und sein Kameramann Luca Bigazzi die Erzählungen illustrieren, wirken eher indifferent als unparteiisch. So verzaubern die Kanäle und Palazzi des touristischen Venedig auch bei ihnen durch ihren pittoresken Charme, während die Straßen und Häuser der Vorstädte, in denen die meisten der Protagonisten leben, einfach nur trist und hässlich sind. An Veränderungen ist nicht zu denken, die gesellschaftlichen Unterschiede werden gezeigt, aber gleich wieder gnadenlos eingeebnet.
Diese ästhetische Gleichgültigkeit geht zudem noch mit einem Verzicht auf jede analytische Distanz einher. Das zeigt schon die Auswahl der Protagonisten. Im einzelnen Fall mag sie jeweils schlüssig sein. Schließlich arbeitet einer von ihnen an der Bewahrung venezianischer Geschichte, ein anderer hat sein Leben der Suche nach den (antiken) Ursprüngen der Stadt gewidmet. Die einzelnen Erzählungen haben individuell betrachtet durchaus ihren Reiz. Doch zusammengenommen beschwören diese sechs Porträts höchstens den Eindruck von Beliebigkeit herauf. Natürlich repräsentieren diese Sechs das andere, von den Touristen übersehene Venedig. Aber das alleine reicht für eine ernsthafte Dokumentation kaum.
Fazit: Bei dem Versuch Venedig zu entzaubern, es von allen überhöhten romantischen Klischees zu befreien, hat Carlo Mazzacurati das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Seine ganz bewusst extrem kunstlos gehaltenen Aufnahmen von Seitengassen und von Vorstadt-Siedlungen verwandeln die Lagunenstadt in eine mehr oder weniger gesichtslose Metropole. Ein Film wie „6 x Venedig" ließe sich in jeder Großstadt der Welt drehen, und jede von ihnen sähe am Ende gleich aus.