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    Life in a Day
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Life in a Day
    Von Jan Hamm

    Web 2.0, nutzergenerierter Inhalt und soziales Netzwerk – das sind die Schlagworte, mit denen seit Mitte der Nullerjahre eine Demokratisierung des Internets beschworen wurde, weg vom Netzmonopol großer Unternehmen, hin zur weltweiten Spielwiese. Ein letzter euphorischer Höhepunkt war erreicht, als der arabische Frühling quer durch die internationale Presse zur Facebook-Revolution reduziert wurde. Der moderne Mythos eines aufgeklärten Internet steht dabei längst in Frage. Sei es aufgrund diffiziler Streitfragen zu Datenschutz- und Copyright-Themen, sei es aufgrund der Sintflut an Trivialitäten, die tagtäglich durch den virtuellen Äther wäscht – oder sei es aufgrund der schlichten Feststellung, dass ein derart inflationäres Mehr an publizierter Laienmeinung zu komplexen Themen keineswegs auch zwingend einen Mehrwert hat. Mit „Life In A Day" beweist der schottische Filmemacher Kevin Macdonald („Der letzte König von Schottland", „State of Play"), dass die Utopie einer durch das Internet verbundenen Weltgemeinschaft in Verbindung mit der integrativen Kraft des Kinos keine naive Illusion sein muss. Besser noch: Hinter seinem berührenden YouTube-Amateurfilm-Zusammenschnitt steht eine inspirierend-unschuldige Vision einer großen Menschheitsfamilie samt ihrer Differenzen, die bis zur letzten Sekunde hypnotisiert und mit der er allen Zynikern frech auf die Füße tritt.

    Das Konzept ist so simpel wie genial: Via YouTube riefen Macdonald und die produzierenden Brüder Ridley und Tony Scott vernetzte Menschen rund um den Globus dazu auf, ihren 24. Juli 2010 in bewegten Bildern festzuhalten. Wen oder was liebt ihr, wen oder was fürchtet ihr – und was tragt ihr in euren Taschen? Abseits dieser Fragen durften und sollten die Teilnehmer schlichtweg das abfilmen, inszenieren und erzählen, was ihnen an eben diesem Tag auf dem Herzen lag. 80.000 Einsendungen aus 140 Nationen – ganze 4.500 Stunden Film – mussten gesichtet, ausgesondert und zusammengeschnitten werden. Dass „Life In A Day" keine inkohärente und beliebige Amateurfilm-Sequenz geworden ist, gleicht einem kleinen Wunder. Macdonald strukturiert das Material grob chronologisch zwischen zwei Mitternächten, fügt besagte Fragestellungen zu kleinen Themenblöcken zusammen und sorgt dafür, dass sich komplett unabhängige Einsendungen thematisch ergänzen. Gerade Letzteres gelingt ihm vortrefflich, weil er – seiner Vision einer Liebeserklärung an die Menschheit in all ihren Facetten verpflichtet – nie wertend oder mit einer Doktrin politischer Korrektheit arbeitet.

    Ein junger Amerikaner telefoniert mit seiner homophoben Großmutter, bittet sie darum, seinen geliebten Partner zu akzeptieren und seine sexuelle Ausrichtung nicht als Krankheit zu denunzieren – während ein Schwarzafrikaner unumwunden kundtut, nichts so sehr wie diese kranken Schwulen zu fürchten. Macdonald lässt Ängste in all ihrer Irrationalität stehen, er weiß um ihre Kontextabhängigkeit. Er zeigt ein Mädchen beim Skype-Chat mit ihrem in Afghanistan stationierten Verlobten, zeigt ihre Verlustangst und ihre Tränen – und springt unmittelbar zu einem afghanischen Fotografen, der davon erzählt, Kabul bestünde ja doch aus weit mehr als fiesen Talibanschergen. Sein Beweis: Filmbilder aus einer Selbstverteidigungs- und Kampfsportschule für Mädchen. Ein Nerd-Junge tritt als Chronist seines ersten Dates auf, er teilt die vorsichtige Hoffnung im Vorfeld und die bodenlose Kränkung nach seiner Abfuhr mit uns – während sich zwei Senioren das Ja-Wort geben und der Traupfarrer über die Ehepflicht gelegentlicher Blowjobs witzelt.

    „Life In A Day" lebt von derartigen Kontrasten, die freilich auch formaler Natur sind. Die Bildqualität der Einsendungen schwankt den finanziellen Möglichkeiten der Teilnehmer entsprechend. Grobkörniges wechselt sich mit High-Definition-Aufnahmen ab, vordergründig triviale Impressionen stehen vor und nach hochästhetischen Slow-Motion-Orgien, etwa einem via Kopfkamera gefilmten Salto vom Schwimmbad-Turm oder einem atemberaubenden Skydive von weit jenseits der Wolkendecke. Ebenso kontrastreich ist die Schwere der Einsendungen. Hier verspielter Humor – was ein Junge am meisten fürchten würde? Zombies natürlich! –, dort existenzieller Ernst. Wie bringt man einem Kind Krankheit und Tod eines Elternteils nahe? Wie verarbeitet ein griesgrämiger Redneck seine Furcht vor einem fernen, undurchschaubaren Polit-Establishment? Und wie sah die traurige Katastrophe der Love Parade in Duisburg, die in Deutschland fest mit dem 24. Juli 2010 assoziiert ist, von innerhalb des Todestunnels aus?

    Im Epilog beklagt ein Teenager, an diesem Tag sei aber auch rein garnichts Aufregendes passiert – dabei hätte sie so gerne etwas zu berichten gehabt. Nach anderthalb Stunden Kinokondensat eines Tages auf diesem schrecklich-schönen Planeten mag man das für unzutreffend halten. Doch auch das wäre ein Irrtum. Mit diesem Schlusspunkt betont Macdonald noch ein letztes Mal Würde und Einzigartigkeit jeder Welterfahrung. Um Punkt Mitternacht geht mit „Life In A Day" ein Tag zuende; taktvoll verstummt hier auch Harry Gregson-Williams' („Königreich der Himmel") schwelgerische Filmmusik. Und ein neuer Tag beginnt, einer, über den es einen weiteren „Life In A Day" geben könnte. Macdonalds Projekt wurde bereits mit Essayfilm-Klassikern wie „Koyanisquaatsi" und „Baraka" verglichen, dabei ist er bis dato ganz und gar einzigartig. Hier wird keine programmatische Beobachtung zu global bedeutsamen Entwicklungen angestellt, keine spezifische Perspektive vermittelt. Hier wird die unüberschaubare Vielzahl von Perspektiven gefeiert – und zwar garantiert ohne jedes noch so leise Facebook-Grundrauschen.

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