Im Netflix-Stream nichts Neues?
Musste man sich in der letzten Zeit die Frage stellen, ob es „Im Netflix-Stream nichts Neues?“ gibt, wagt sich ausgerechnet der Streaminganbieter, nachdem er Jahre lang gehyped wurde und nun bei vielen Kunden aus unterschiedlichen Gründen in Ungnade gefallen war, an die Verfilmung des Klassikers des Anti-Kriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ und schickt das Werk sogar ins Oscarrennen 2022 für Deutschland.
Die Erstverfilmung, des literarischen Stoffes von Erich Maria Remarque, erregte im Jahre 1929 Aufsehen, durchbrach er die Weise, wie bisher Filme gemacht wurden, in technischer Sicht, wie auch weltanschaulicher Sicht, nämlich gegen ein heroisches Ideal und romantisierendes Heile-Welt Paradigma. Besonders in Deutschland wurden längere Filmszenen zensiert und unter den Nazis verballhornt und verfemt, bis er ganz verboten wurden. Aber auch in den USA hat der Film einige Zensurschnitte erfahren müssen. Das kinematografische Jahrhundertwerk darf auch noch heute als Meilenstein der Filmgeschichte gelten, weil danach kein sog. Anti-Kriegsfilm die Angst und Furcht der Soldaten so ungeschönt dargestellt hat, wenn sie sich in den Schützengräben und Bombenkratern wimmernd, weinend und kreischend in der Deckung zusammenkauern, wo sie in anderen Filmen meist mit tapferer Mine ihr Schicksal ertragen und über sich hinauswachsen.
So können die Soldaten in jedem anderen sog. Anti-Kriegsfilm trotzdem zu Helden werden, was für den Zuschauer sicherlich wohlgefällig ist, doch bei „Im Westen nichts neues“ existiert der Held genauso wenig, wie der Anti-Held, es gibt nur Futter für die Kanonen. Im Vergleich, zum dem mit dem Oscar ausgezeichneten Klassiker von 1930, könnte also die Herausforderung für die Neuverfilmung nicht größer sein. Nun ist die Neuverfilmung am 28.10.2022 auf Netflix erschienen, war der Film einen Monat zuvor ausgewählten Kinos bereitgestellt worden.
[SPOILER//////SPOILER//////SPOILER]
Die Rezeption der ersten Kritiken zeigt einen häufig geäußerten Einwand. Im Gegensatz zu Roman und Erstverfilmung habe man die Verblendung der Jugend, durch die Eltern und Lehrer, nicht mit entsprechender Aufmerksamkeit behandelt. In der Originalverfilmung sieht man zusätzlich zur patriotischen Kriegsrede des Lehrers, die Eltern Pauls, eine besorgte Mutter und einen stolzen Vater, jedoch nur in einer sehr kurzen Sequenz, die weniger als 30 Sekunden dauert. Dass die Eltern an der patriotischen Verblendung Teil hatten ist zwar wichtig, aber die Auslassung ist kein Verlust, denn der Neuverfilmung gelingt hier etwas neues durchaus Pointierteres, nämlich eine bedrohliche und verstörende Atmosphäre, die sich wie einer roter Faden, schon bei der ersten Einstellung auf dem Schlachtfeld, durch die ganze Erzählung zieht.
An diesem roten Faden angehängt ist auch die heroische Rede des Schulleiters, die zum einen die des Lehrers aus der Erstverfilmung adäquat ersetzt und die zum anderen als Antithese zu den parallel auf dem Schlachtfeld fallenden Soldaten wirkt, welche in Anbetracht der Tötungsmaschinerie aus Stahl, die ihnen entgegengestellt wurde, keine Chance auf ein Überleben hatten.
Während die Rede bei den jungen Männern auf fruchtbaren Boden fällt, wird dem Zuschauer die Wahrheit vor Augen geführt. Kaum gefallen, werden die verstorbenen Soldaten, anhand ihrer Nummer registriert, entkleidet und ihre Uniform wiederaufbereitet, damit die nächsten damit ausgestattet werden können, wie etwa Paul Bäumer und seine Kameraden.
So findet Paul das Namensschild seines Vorgängers im Kragen der Uniform und ist nichtsahnend, dass darin gefühlt bloß ein Tag zuvor ein Kamerad gestorben ist. So tief einschlagend, wie diese blutgetränkte Szene, ist jene von den Besitzern wechselnden Lederstiefeln in der Erstverfilmung nicht, auch wenn sie fast den gleichen Zweck erfüllte. Plötzlich überblickt der Zuschauer den ganzen gnadenlosen Kreislauf, einer erschütternden Maschinerie und ahnt, dass in dieser Uniform vielleicht nicht nur ein einziger Mensch gestorben ist, sondern noch viele andere und das Paul und seine Kameraden nicht die letzten sein könnten. Ein menschenfressendes System wird enthüllt und zu einer drastisch erfahrbaren Parabel der industriellen Auslöschung von Menschenleben im Krieg.
Im direkten Vergleich mit dem Klassiker der Filmgeschichte von 1930 schafft es die Neuverfilmung die Erzählung sowohl passend um einige Handlungsstränge im Sinne Remarques, als auch im Verständnis der heutigen Geschichtsreflexion zu ergänzen. Dabei berücksichtigt die Neuinszenierung moderne Ansprüche, d. h. Vertonung, als auch Kameraarbeit, Kulissen und Schauspiel werden Teil einer Inszenierung, die eine herausragende realistische und bedrückende Atmosphäre erschaffen kann. „Im Westen nichts neues“ ist eine Tortur, für die man sich entscheiden kann sie durchzustehen, aus Respekt vor den gefallenen Soldaten, jungen Männern, die mit Eifer und Stolz eine Wahl getroffen haben, deren Konsequenzen ihnen die Kriegstreiber vorenthalten haben.
Wenn es nur einen Grund gäbe diesen Gang durch die Hölle mitzuerleben, dann ist jener, dass weder Besuche auf Ehrfriedhöfen, noch das Studium von Geschichtsbüchern diese Erfahrung so immersiv transportieren können, wie dieses filmische Mahnmal für den unbekannten Gefallenen.
In der näheren Betrachtung der Neuverfilmung ist den Drehbuchautoren mit der fortwährenden Antithetik und der dazugehörigen eindringlichen Inszenierung ein stilistischer Kunstgriff gelungen, denn die Erzählung beginnt mit dem Morden und Sterben auf dem Schlachtfeld und verfolgt diesen roten Faden bis zum Ende, wenn sich der Kreis schließt.
Ein schwerer Verlust scheint hingegen die Auslassung der Figur des Postboten/Unteroffiziers Himmelstoß. Mit Unteroffizier Himmelstoß fehlt nicht nur die militärische Ausbildung der jungen Rekruten, sondern auch eine wichtige Figur, die sicherlich einer der moralisch wichtigsten Einsichten aus Remarques Werk transportiert. So ist die Figur Himmelstoß anfangs der von Paul und seinen Kameraden respektlos behandelte Postbote, welcher in der zivilen Gesellschaft ein eher unbeachtetes Dasein führt, so die Charakterisierung durch Remarque.
Mit dem Beginn der Mobilmachung schwingt Himmelstoß große patriotische und heroische Reden und zeigt sich damit als kleiner Mann, der durch das Kollektiv der großen Nation über sich hinauswächst. Nicht ohne literarischen Kontext zu anderen Werken seiner Zeit, ist diese Figur von Remarque erschaffen worden, lässt sie deutlich einen Bezug zu Heinrich Manns „Der Untertan“ erkennen. Viel besser kann man Heinrich Manns Charakterisierung eines wilhelminischen Untertanen nicht auf eine Figur übertragen, denn als der Postbote Himmelstoß zum Unteroffizier aufsteigt, kann man beobachten, was passiert, wenn vorher abgehängte Menschen Macht über andere erlangen. So heißt es im Roman Remarques kommentierend „Seine Macht ist ihm zu Kopf gestiegen.“ Als stereotyper linientreuer Soldat zeigt Himmelstoß sich unterwürfig und gehorsam gegenüber den höheren Rängen und auf der anderen Seite tritt er als tyrannisch-sadistischer Schleifer auf, der Paul und seinen Kameraden das Leben zur Hölle macht. Damit ist auch der Untertan nach Heinrich Mann charakterisiert.
„Nach oben buckeln, nach unten treten – das ist die Lebensdevise des Untertans“ – Heinrich Mann
Mit seinem Roman „Der Untertan“ setzt Heinrich Mann einen Meilenstein der Literaturgeschichte. Vom Elternhaus über die Schule bis hin zum Militär stellt er das autoritäre Erziehungssystem im Kaiserreich bloß. Das ist insofern wichtig, weil die Charakterisierung der Figur des Himmelstoß‘ diese Idee fortführt und noch weitere Einsichten ermöglicht, denn gleichzeitig ist er auch ein Exemplar des sog. „autoritären Charakters“, dessen Konzept wesentlich auf den Psychoanalytiker Erich Fromm und den Sozialphilosophen Max Horkheimer zurückgeht. Das Thema des autoritären Charakters hat bis heute nicht an Aktualität verloren und wird innerhalb der Psychologie als autoritäre Persönlichkeit im Rahmen der Autoritarismusforschung untersucht. Die autoritäre Persönlichkeit, als Sammlung von Eigenschaften und Verhalten einer Person, spielt eine bedeutende Rolle für die Entstehung von rechtsextremistischen Strömungen. Die Ursachen für die Prägung eines Menschen zu einer autoritären Persönlichkeit sind in einer autoritären bzw. antiautoritären Erziehung zu finden, eine Erkenntnis, welche durch die Führungs- und Erziehungsstilforschung von Kurt Lewin möglich wurde. Zurück aber zur Figur des Unteroffizier Himmelstoß.
Nach der Grundausbildung begegnen Paul und seine Kameraden – oder das was davon übrig ist – Unteroffizier Himmelstoß im Kampfeinsatz wieder, aber hier ist der einst stolze Unteroffizier Himmelstoß nur noch ein wimmerndes Häufchen Elend, das sich im Matsch des Schützengrabens verkrochen hat, wie die meisten anderen, was im Kontrast zu seinem seinen vorhergehenden heroischen Reden, aber auch seiner harten und tyrannischen Art als Ausbilder steht.
Unteroffizier Himmelstoß, der stolze tyrannische Ausbilder, kauert am Boden. © Universal Pictures
Wenn man ein wenig Literaturkritik am Original von Remarque üben darf, dann wäre es in dem folgenden Punkt, dass es im Roman ein wenig zu kurz kommt, mit welcher Respektlosigkeit Himmelstoß von Paul und seinen Kameraden in der Vergangenheit behandelt wurde. Das ist zwar keine Legitimation für seine Rache an ihnen, aber es zeigt welche Konsequenzen es hat, wenn schwache Menschen von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Global kann man heutzutage beobachten was abgehängte Menschen am Rande der Gesellschaft imstande sind zu tun. Wenn sie sich nicht extremistischen Strömungen anschließen, verüben sie terroristische Attentate oder begehen Amokläufe. Inwieweit diese Menschen selbst eine Verantwortung dafür tragen, wenn sie vom Rest der Gesellschaft abgehängt werden, darf nicht dazu führen, dass man sich selbst aus der Verantwortung entlässt, für deren Heilung und Teilhabe zu sorgen bzw. dass Menschen erst gar nicht abgehängt werden.
Vielleicht ist die Auslassung der Figur des Unteroffiziers Himmelstoß in der Neuverfilmung sogar die einzige Möglichkeit gewesen dramaturgisch pointierter zu agieren, fällt sie ja nicht völlig weg. Offenbar leben Teile der Figur offenbar in der neuen Figur des General Friedrichs fort. Der General residiert in einem geheizten herrschaftlichen Anwesen wie ein Fürst, fernab der Front, genießt allerlei erlesene Speisen der französischen Küche und braucht um sein Leben nicht zu fürchten, eine weitere Antithetik zu den im Matsch und Blut verreckenden Frontsoldaten. Nun war Himmelstoß der Repräsentant des kleinen Mannes aus dem Volk, während Generäle in der Regel, in der historischen Tradition der Monarchie, aus höherstehenden adeligen Familien kamen. Friedrich trägt keinen adeligen Namen, weshalb man bei ihm von einem Emporkömmling aus der Bürgerschaft ausgehen kann. Damit erfüllt er wohl denselben Zweck des Aufsteigers, doch das ist eben nicht so deutlich sichtbar wie bei dem Postboten, der zum Unteroffizier wird. Bei General Friedrich gibt es also nur eine abgeleitete vermutete Biografie, aber als Ersatz hat er, neben einem ähnlichen wilhelminischen Aussehen, auch die gleiche Charakteristik wie Himmelstoß.
Nicht nur die Synopse der beiden Konterfeis ist verblüffend. Friedrich ist ebenso randständig und einsam wie Himmelstoß, denn er hat keine Freude, Vertrauten oder keine Familie, er ist mit der Armee verheiratet. Zugleich ist er, der heroische Reden schwingende Patriot mit preußisch-wilhelminischer Tugend, durch und durch genauso ein Tyrann wie Himmelstoß, bereit andere in den Tod zu schicken, vom unbedingten Siegeswillen getrieben, aber mit großer eigener Distanz zur Schlacht. So entspricht die Figur des Generals, auch wenn sie weder Teil des literarischen Werkes, noch der ursprünglichen Verfilmung ist, doch dem Gedanken Remarques, dass diejenigen am meisten für den Krieg seien, die die größte Entfernung zu ihm haben würden.
Doch General Friedrich leistet noch viel mehr als die Figur des Himmelstoß, steht er außerdem symbolisch für jene Teile der obersten Heeresleitung des Deutschen Kaiserreiches, die fern der Schlachtfelder agiert und nicht realisieren wollten, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann. Scheinbar nur durch das Machtwort Hindenburgs kam es zur Annahme der Bedingungen für einen Waffenstillstand, die einem Diktat glichen. Trotz Aushandlung des Waffenstillstands zum 11. November 1918 um 11 Uhr, belebt der fiktive General Friedrich die Kämpfe an der Westfront wieder, um noch einmal Territorium zu gewinnen. Das ist historisch nicht belegbar, lassen sich dafür keine unmittelbaren Beweise finden. Diese unhistorische Hinzufügung mag eventuell einzig dramaturgischen Zwecken gedient haben oder es war die Absicht der Drehbuchautoren diese Verdichtung der Geschehnisse herbeizuführen um einen Bezug zur „Dolchstoß-Legende“ herzustellen. Von Seiten der Obersten Heeresleitung wähnte man sich „als im Felde unbesiegt“. Infolgedessen lehnte man eine Kapitulation ab, die durch die Politik vermittelt worden war, insbesondere von den Sozialdemokraten. Man bezeichnete den Vorgang als Dolchstoß, welcher hinterrücks an den deutschen Soldaten verübt worden war, einen Verrat am deutschen Volk und an der Armee. Dies begründete die Entstehung der berühmten „Dolchstoß-Legende“.
Im Gegensatz zum Roman und den beiden Vorgängerverfilmungen thematisiert die Neuverfilmung durch die Ergänzung dieser Figur des Generals also dankenswerter Weise auch die politischen Entscheidungen, mit dem Fokus auf die Haltung von Teilen der obersten Heeresleitung und fügt somit historische Einsichten mit ein, die Remarque damals noch nicht gehabt haben kann, weil die Konsequenzen des Versailler Vertrags erst nach dem Aufstieg Hitlers und des Dritten Reichs gesehen werden und einer historische Reflexion unterzogen werden können. Puristen beklagen, dass die politische Parallel-Erzählung, um die Verhandlungen des Waffenstillstands und die Dolchstoß-Legende, eine Beifügung darstellte, die in dem Roman nicht existiere. Man kann jedoch davon ausgehen, dass dies auch im Sinne Remarques ist, denn relativiert er Jahrzehnte später, nach dem Zweiten Weltkrieg, angesprochen auf das Fehlen des expliziten Pazifismus-Bekenntnis, seine früher Aussage, dass man doch annehmen müsse, dass jeder Mensch gegen den Krieg sei, folgendermaßen:
„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“
Der erste Teil der Aussage repräsentiert die jugendliche Naivität Remarques, denn es scheint für ihn klar, dass Krieg per se moralisch verwerflich ist und man Menschen darüber nicht aufklären müsse, aber der historische Revanchismus hat Deutschland bzw. Frankreich immer wieder Legitimationen geliefert. Aber immer war das Vom-Zaun-brechen der Kriege eine Entscheidung von Schreibtisch-Tätern, kühle Strategen am runden Tisch, angetrieben vom Ehrgeiz der Monarchen, welche um ihr Leben selten fürchten mussten. So ist der Erste Weltkrieg nicht etwa der erste Krieg in Europa mit bedauernswert vielen Todesopfern, sind durch den 30-jährigen Krieg, in der Relation zur Bevölkerungszahl, mehr Menschen gestorben, und der Erste Weltkrieg war auch nicht der letzte Krieg.
Der Erste Weltkrieg hat aus der Sicht der Kontrahenten Deutschland und Frankreich eine tausendjährige Tradition schaut man sich nicht nur die Konflikte zwischen den beiden territorialen Nationalstaaten an. Der letzte Krieg vor dem Ersten Weltkrieg war der Deutsch-Französische Krieg, bei welchem Deutschland Frankreich gedemütigt hatte, indem es das Deutsche Reich ausgerechnet im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles ausrief. Das war die Revanche für die Niederlage Preußens gegen Napoleon, welcher große Teile des heutigen Westdeutschlands Jahre lang besetzt hielt, Kultur, Recht und Gesetz nachhaltig beeinflusste. Sicher könnte man noch weiter zurück gehen, aber die lange Geschichte führt sicher zurück bis in das Frühmittelalter und zu verfeindeten germanischen Stämmen. Der Erste Weltkrieg trägt also einen Namen, welcher erst einmal aus historischer Sicht einen namentlichen Mythos kreiert, doch ist dieser Krieg tatsächlich auch eine Zäsur mit der Vergangenheit, die das Antlitz des Krieges für immer veränderte. Der Erste Weltkrieg ist der Krieg, bei welchem der Mann-gegen-Mann-Ethos, also das Verständnis eines ehrenhaften, fairen und heldenhaften Kampfes zwischen zwei Menschen endgültig obsolet wird, denn von nun an ist es ein Kampf von Mensch gegen Maschine. Dazu gehörte das Maschinengewehr, das in einer Minute 500 Projektile abfeuerte und moderne Artillerie, die ihre pfeifenden Geschosse alle 10 Sekunden abfeuern konnte, genauso wie Panzer, die sich um Schützengräben nicht sonderlich kümmerten. Auch kamen zum ersten Mal Flammenwerfer, sowie chemische Waffen wie Gas zum Einsatz, deren Verwendung man 1925 in den Genfer Konventionen schließlich ächtete und verboten hat. Dieser erste moderne Krieg forderte 17 Millionen Todesopfer und konnte nur durch die Kapitulation Deutschlands und der Unterzeichnung des Knebel-Waffenstillstandsvertrags, in einem Bahnwaggon bei Compiègne, beendet werden.
Der nach den Konditionen des Waffenstillstandes ausgehandelte Versailler Vertrag wurde von den meisten Deutschen als demütigendes Diktat empfunden, denn die Reparationen hätte man in 1000 Jahren nicht leisten können. Er wurde de facto mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Rückschau als Fehler angesehen, führte er zu einem Ungleichgewicht der Hegemonial-Mächte in Europa und fütterte den historisch gewachsenen Revanchismus, statt eine Balance zwischen den Mächten herzustellen. Die Nazis, in ihrem Rachegedanken und dem Willen zur Weltherrschaft, bedienten sich an der Dolchstoß-Legende, wie auch den unrühmlichen Versailler Vertrag, um das Deutsche Volk erneut aufzuhetzen. Die Nazis gelangten eben nicht durch die Dokumentation des sinnlosen Grauens zu dieser pazifistischen Erkenntnis, weshalb Friedrich Schillers Einsicht
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ - Friedrich Schiller, Wilhelm Tell
zur bitteren Gewissheit wird, denn macht sich die ganze Welt auf in den Krieg, um das Dritte Reich zu stoppen. Der Pazifismus weicht der Realität, weil ohne Widerstand Freiheit und Leben bedroht sind.
Die Zeitlosigkeit des Werkes spiegelt sich in seiner pazifistischen Hypothese auch wieder im aktuellen Zeitgeschehen, wobei man an der Schwelle zu einem Dritten Weltkrieg steht. Dieses Mal sind die Deutschen nicht die Aggressoren und stehen zusammen mit der Weltgemeinschaft vor der Entscheidung, vor welcher die Alliierten im Zweiten Weltkrieg standen, nämlich ob man dabei zusieht wie ein Land mitten in Europa ein anderes Land mit Panzer-, Artillerie- und Bombenterror überfällt und dabei zivile Opfer ins Visier nimmt. Im Gegensatz zu vielen Scharmützeln, Kriegen- und Stellvertreterkriegen nach dem Zweiten Weltkrieg ist heute wieder eindeutig wer der Aggressor ist.
Da stellt sich automatisch die Frage, ob ein Verteidigungskrieg ein gerechter Krieg ist oder Pazifismus generell bis zur Selbstaufgabe gehen muss?
Erich Maria Remarque hat diese Frage nie gestellt, denn in seinem Werk geht es um einen Krieg, bei welchem nicht klar ist, wer das moralische Recht auf seiner Seite hat bzw. wer der Aggressor ist. Alle an diesem Krieg beteiligten Nationen wollten diesen Krieg, so dass es wohl einen Initiator geben mag, er aber nur auch ein Glied in der multikausalen Verkettung von Umständen darstellt. So zielt die Einsicht eines Teilnehmers des Krieges, in vorderster Linie, wie die Perspektive von Erich Maria Remarque, darauf ab, die Traumata des Krieges und seine Folgen für die direkten Beteiligten offenzulegen, was gleich schon im Einband des Buches zu lesen ist:
„Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ – Erich Maria Remarque
Zur „verlorenen Generation“, also den wenigen Überlebenden und Traumatisierten des Ersten Weltkriegs, zählt auch der Sohn des Osnabrücker Buchbinders Peter Franz Remarque, mit deutsch-französischen Eltern (Remarque/Bäumer), welcher mit Notabitur 1917 als Soldat an die Westfront eingezogen wurde: Erich Maria Remarque. Kaum ein paar Wochen an der Front, wurde er mit Granatsplitter in Beinen und Armen, sowie einem Halsschuss verwundet. Nach über einem Jahr Aufenthalt in Armee-Hospital in Duisburg wurde er, als wären die ersten Verwundungen nicht genug der Strapazen gewesen, im Oktober 1918 wieder an die Front geschickt, also einen Monat vor Kriegsende. Nicht nur diese verstörenden Ereignisse und Erlebnisse sind Teil seines semibiografischen Anti-Kriegsromans „Im Westen nichts neues“ geworden. In der Ich-Form erzählt, aber mit Kommentaren eines auktorialen Erzählers, tritt der fiktive Protagonist Paul Bäumer, aufgeputscht durch Lehrer, Eltern und die Massen freiwillig (im Gegensatz zu Remarque selbst) in den Kriegsdienst ein und erlebt die Hölle auf Erden. Die Schilderungen der Erlebnisse sind nicht nur grausam authentisch, sondern sie sind realistisch. Es ist zu vermuten, dass Remarque nicht der Literaturepoche der „Neuen Sachlichkeit“ und des wiederkehrenden „Realismus“ entsprechen wollte, sondern war er Kind seiner Zeit, die allgemein vom Trauma des Ersten Weltkriegs geprägt war. Er schrieb eher frei, unverhüllt und unverklärt einen Bericht des Grauens in Romanform, welcher gedruckt 1929 erschien und 1930 verfilmt wurde. Es mutet sonderbar an, wenn am Vorabend des Zweiten Weltkrieges sowohl ein Anti-Kriegsroman als auch ein Anti-Kriegsfilm erscheinen, welche in erschütternder Weise die Hölle auf Erde schildern. Müsste man doch nach Ansicht eine Anti-Kriegswerkes bzw. müsste ein Werk der Weltliteratur, das Millionen Menschen auf der ganzen Welt zugänglich geworden ist und welches den Krieg allgemein reflektiert, nicht bewirken, dass viele Menschen zu einer pazifistischen Erkenntnis gelangen. Nur 20 Jahre später, also etwa eine Generation nach der „verlorenen Generation“, war der sinnlose Tod der Soldaten des Ersten Weltkriegs bereits verdrängt worden und es kam erneut zum Schlachten.
Wie gerne hätte ich meinen 2006 verstorbenen Großvater heute gefragt, wie er den Ersten Weltkrieg als Jugendlicher im Dritten Reich betrachtet hat und ob er von „Im Westen nichts neues“ wusste und wie er dazu steht. Er hat mir viele Kriegsgeschichten erzählt, auch dass er darunter litt, dass er im Dritten Reich als Jugendlicher verblendet wurde und Kriegsheld werden wollte. Die Kameradschaft in Hitlerjugend und Armee hat ihm gefallen, diese hat er auch beibehalten als Werl, als er mit anderen zusammen einen Landesverband für katholische Pfadfinder gründete. Er wollte, dass die Pfadfinder im Gegensatz zu seiner Verblendung, weltoffen gebildet werden und Versöhnung und Toleranz lernen, damit sie sich nicht für einen Krieg gewinnen lassen.
Die historische Erkenntnis vom Revanchismus zwischen Deutschland und Frankreich, der zu so vielen Kriegen geführt hat, muss heute und für die Zukunft fortwährend alle Verantwortungsträger lehren, dass man Konflikte nicht mehr so befriedet, dass der Verlierer gedemütigt wird. So ist vorhersehbar, dass wenn es einmal zu einem Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommt, keine der beiden Seiten über das Maß hinaus zurechtgestutzt werden darf, denn es würde den wahren Konflikt nur einfrieren und nach einiger Zeit steht der Geschlagene wieder auf und es kommt erneut zum Schlachten. Die Lösung für den ehernen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich war die schmerzvolle Teilung für alle und die Einsicht, dass es keine wirklichen Gewinner gibt, wenn man nicht gemeinsam auf Versöhnung und Kooperation setzt.