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    Der dritte Mann
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der dritte Mann
    Von Ulrich Behrens

    Nicht das Wien eines Johann Strauß, das Fiaker-und-Heurigen-Wien der Operette, das Wien-bleibt-Wien-Klischee, das sich bis in die Gegenwart reproduziert visualisierte Carol Reed in seinem klassischen film noir aus dem Jahre 1949. Es ist das dunkle Wien, das Wien der Schatten, der Korruption, des nachwirkenden Krieges, der Trümmerlandschaften, der feuchten Keller, eine Stadt des Verborgenen, des Skrupellosen, der Schieber und Spekulanten, der um Macht konkurrierenden vier Besatzungsmächte, der Lebemänner, des Schwarzmarktes – ein Ort, an dem sich menschliche „Kanalratten“ die Hände reichen und im nächsten Moment umbringen.

    Reed wählte die – inzwischen mehr als berühmte – Zither-Musik Anton Karas, die dieses ganz andere Wien mit einem Mantel, nicht des Fröhlichen oder gar Feucht-Fröhlichen umgibt, sondern der düsteren Atmosphäre der Geschichte und ihrer Umgebung einen besonderen Touch verleiht.

    In dieses Wien kommt die Unschuld in Gestalt des wenig erfolgreichen amerikanischen Schriftstellers Holly Martins (Joseph Cotten), der billige Western schreibt, die kaum einer liest – ein Naivling aus der hellen, neuen Welt, dem zur Weltmacht aufstrebenden Amerika. Sein alter Freund aus Schultagen, Harry Lime (Orson Welles), hat ihn nach Wien gebeten, in ein Zentrum des zertrümmerten, schwachen Europa, um ihm einen Job zu verschaffen, hat ihm ein Ticket in die Staaten geschickt, damit der mittellose Holly überhaupt herkommen kann.

    Der Portier (Paul Hörbiger) des Hauses, in dem Lime eine Wohnung hatte, erklärt ihm, er komme zu spät, vielleicht sogar zu Limes Beerdigung. Holly ist fassungslos. Harry tot. Und tatsächlich: Als Holly zum Friedhof eilt, sieht er ihm unbekannte Personen am Grab Harry Limes stehen. Er wird sie alle kennen lernen, den britischen Major Calloway (Trevor Howard), der etwas abseits der Zeremonie beiwohnt, Harrys tschechische Freundin Anna Schmidt (Alida Valli), die sich einen deutschen Namen zugelegt hat und mit von Harry besorgten falschen Papieren in Wien lebt, um sich dem Zugriff der russischen Besatzungsmacht zu entziehen, den dubiosen und schmierigen „Baron“ Kurtz (Ernst Deutsch) und den nicht minder merkwürdigen Arzt Dr. Winkel (Erich Ponto), später noch Popescu (Siegfried Breuer), der in irgendeiner Verbindung zu Harry Lime stand.

    Major Calloway fragt Holly aus, der noch nicht ahnt, dass sein alter Jugendfreund, der schon immer für außergewöhnliche Streiche zu haben war, in dunkle Geschäfte verwickelt gewesen sein soll. Harry Lime, so erzählt ihm Calloway, war ein Mörder und Schieber, der mit dem illegalen Verkauf von künstlich „verlängertem“ Penicillin dafür verantwortlich war, dass etliche kranke Menschen an den Folgen der Behandlung durch dieses Mittel gestorben sind oder schwere Schädigungen bekamen. Holly will das nicht glauben. Harry war auch früher manchmal an die Grenzen des Erlaubten gegangen; aber ein Mörder? Nein!

    Bei einem Verkehrsunfall vor seiner Wohnung soll Harry umgekommen sein. Doch der Portier des Hauses, den Holly immer wieder befragt, spricht plötzlich von einem dritten Mann, den er bei dem Unfall auf der Straße gesehen habe, während Kurtz und Popescu behaupten, allein bei Harry gewesen zu sein, als ihn ein Auto überfuhr. Der Portier behauptet zudem, Harry sei nicht sofort tot gewesen.

    Und Holly? Holly gräbt, befragt Anna, die anderen Gestalten aus dem Dunstkreis von Harry Lime, vermutet Mord, während Anna und Calloway ihn auffordern, nach Hause zu fliegen. Calloway, der die Wiener Verhältnisse gut kennt, sagt Holly, er sei kein Sheriff und Holly kein Cowboy aus einem seiner Pulp-Romane. Doch Holly gibt nicht auf, verliebt sich in Anna, und dann, plötzlich, als er nachts durch die Straßen geht, von Anna kommend, die er überreden wollte, mit ihm in die USA zu kommen, hört er ein Geräusch, eine Katze, und dann sieht man blank polierte schwarze Schuhe, um die die Katze streift. Plötzlich geht für einen Moment ein Licht in einem Fenster im ersten Stock an, und die Person wird sichtbar: Harry Lime. Er lebt ...

    Holly, der Unschuldige, der Westernheftchen schreibende, wahrheitsliebende, ehrliche Holly Martins sieht sich mit seinem alten Freund Harry konfrontiert, der zu einem der größten Verbrecher des Nachkriegs-Wien geworden ist, der seinen eigenen Tod inszenierte, bei dem natürlich auch ein anderer sein Leben lassen musste, einen skrupellosen, gefühllosen, egozentrischen Mann, der den Tod nicht fürchtet und den Tod provoziert: „Nobody thinks in terms of human beings. Governments don’t. Why should we? They talk about the people and the proletariat, I talk about the suckers and the mugs – it’s the same thing. They have their five-year-plans, so have I [...]. In Italy for thirty years under the Borgias they had warfare, terror, murder, bloodshed – but they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci, and the Renaissance. In Switzerland they had brotherly love, 500 years of democracy and peace, and what did that produce? The cuckoo clock. So long, Holly,“ erklärt Harry seinem alten Freund.

    Holly, der Schuldige. Calloway bringt ihn unter seinen Einfluss. Holly verrät Harry, belügt Anna. Holly soll Harry in eine Falle locken. Und Holly tut dies. Aber ist dies wirklich Verrat, ist dies Schuld?

    Holly lernt, über Freundschaft, Liebe, Gerechtigkeit und Loyalität. Für ihn ist die Geschichte von Harry Lime eine Lektion. Anna hingegen ist die Unerreichbare, die Unnahbare. Harry hat sie nicht wirklich geliebt, aber sie ihn. Holly liebt sie, aber in der Schlusssequenz läuft sie an ihm vorbei, so, als wenn sie ihn nicht sehen würde, weil er Harry verraten hat. „The Third Man“ ist ein film noir, aber keiner der vielen unwahrscheinlichen filmischen Konstruktionen, deren Realitätsgehalt nur vorgetäuscht wird. „The Third Man“ ist Schilderung harter Nachkriegsverhältnisse, ein Schlag gegen die Verharmlosung einer Zeit, in der Korruption und Verbrechen Urständ feierten ebenso wie politische Machtgeplänkel der Siegermächte. Robert Krasker zeigt in seinen Bildern eine Welt ohne wirklichen Zusammenhang, eine zerrissene Welt zerrissener Individuen, die letztlich nur durch Gewalt zusammengehalten wird. Harry Lime hat aus dem Krieg „gelernt“, nämlich, dass das Leben nur lebenswert ist, wenn man auf ethische Maßstäbe verzichtet. Er wird so zum skrupellosen Gangster. Warum sollte er anders handeln als die Regierungen in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren? Warum?

    Dem Naiven, Holly, stellte Graham Greene, der mit Unterstützung von Alexander Korda und Orson Welles das Drehbuch schrieb, den „Erwachsenen“ gegenüber: Major Calloway, eine Figur, die über die Skrupellosigkeit dieser Nachkriegswelt hinaus denkt. Der Film endet, wo er begann: auf dem Friedhof, und scheinbar hat sich nichts verändert. Anna bleibt loyal, einem Mann gegenüber, den sie liebte, eine Frau, die diese Liebe über das stellt, was Harry Lime zu verantworten hat. Das Ende des Films ist aber in gewisser Weise auch offen. Anna marschiert an Holly schnurstracks vorbei, scheint ihn zu hassen, zu ignorieren. Ist das ihr letztes Wort? Es gibt keine letzten Worte in „The Third Man“. Man weiß nicht, was Anna weiter tun wird, was Holly aus der Geschichte gelernt hat, wie Calloway handelt usw.

    „The Third Man“ ist ein Porträt, die realistische Schilderung einer Atmosphäre, die Geschichte von Personen, die unterschiedlicher nicht sein können, die aufeinander treffen, aber was ändert sich eigentlich? Der dritte Mann, den der Portier gesehen hat, ein Mordopfer Limes, steht für den Tod, den Männer wie Lime verbreiten, den Mord, den sie befehlen, die Verbrechen, die sie begehen. Der dritte Mann ist tot. Und ohne es jemals auszusprechen, anzusprechen, zu fordern, steht „The Third Man“ doch eben auch für eine Welt, in der Männer wie dieses „taktische“ Opfer Limes und die Opfer, die Harry Lime zu verantworten hat, keine mehr sind.

    Carol Reed gelang, mit Orson Welles in einer schrecklich-schönen Rolle, ein Klassiker des film noir.

    (Zuerst erschienen bei Filmzentrale)

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