Das Ruhrgebiet hat sich immer noch nicht von dem Strukturwandel erholt, der 1957 mit der Kohlekrise seinen Anfang nahm. Darüber kann auch eine Großveranstaltung wie „Ruhr 2010" nicht hinwegtäuschen. Während sich Essen und die umliegenden Ruhrgebietsstädte und -Siedlungen „Kulturhauptstadt" nennen dürfen, brechen im Zuge der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise erneut über Jahre und Jahrzehnte gewachsene lokale (kulturelle) Strukturen in sich zusammen. Ein Projekt, das allerdings deutlich von den Kulturhauptstadt-Möglichkeiten und -Millionen profitiert hat, ist das seit dem Schuljahr 2007/2008 im Ruhrgebiet angebotene Programm „Jedem Kind ein Instrument". In Anlehnung an „El Sistema", ein seit Jahrzehnten existierendes venezolanisches Projekt, das sich an die Kinder in den dortigen Barrios richtet, soll „JeKi" allen im Ruhrgebiet lebenden Grundschulkindern die Chance geben, ein Instrument ihrer Wahl zu erlernen. Mittlerweile ist der Fortbestand des Projekts über 2010 hinaus gesichert – aller Kritik und allen Einwänden zum Trotz. So gesehen kommt Oliver Rauchs Dokumentation „Jedem Kind ein Instrument – Ein Jahr in vier Tönen" fast zu spät. Schließlich begnügt sich Rauch damit, filmisch Werbung für das Projekt zu machen.
Den Alltag von vier Kindern und ihren von den örtlichen Musikschulen kommenden Lehrern zeichnet Oliver Rauch nach. Motomu lebt mit seinen Eltern in einem fast noch idyllischen Stadtteil Bochums, nicht unweit der Ruhr-Universität. Soziale Brennpunkte sehen zwar anders aus, aber auch in seiner Welt ist diese Art musikalischer Bildung längst nicht selbstverständlich. Trotzdem scheinen ihn und seine Klasse Welten von den Gruppen zu trennen, in denen der in Duisburg wohnende Kerem wie auch Joana und Esragül, die beide in Herne aufwachsen, an die Musik herangeführt werden. Diese drei passen ohne Frage perfekt ins Profil der Grundschüler, für die „JeKi" ins Leben gerufen wurde. Ihr Werdegang und das Engagement ihrer Lehrer, das Oliver Rauch immer wieder betont, dokumentieren ohne Zweifel die integrativen Aspekte des Programms. Wahrscheinlich wird keines der vier Kinder einmal in einem großen Orchester spielen, aber darum geht es auch gar nicht. Die Musik öffnet ihnen eine Welt, in die sie sich sonst vielleicht nie vorgewagt hätten.
Wie nahezu alle deutschen Dokumentarfilme, die den Weg ins Kino finden, wurde auch „Jedem Kind ein Instrument" von einem Fernsehsender, in diesem Fall dem WDR, koproduziert. Dagegen ist im Prinzip auch gar nichts zu sagen. Schließlich ermöglichen die Ressourcen der öffentlich-rechtlichen Sender den meisten Dokumentarfilmern überhaupt erst, ihre Vision zu realisieren. Doch Oliver Rauch hatte allem Anschein nach keinerlei Vision. Im Endeffekt beschränkt sich sein Projekt auf einen rein journalistischen Ansatz. „Jedem Kind ein Instrument" ist kein klassischer Dokumentarfilm und schon gar kein Filmessay. Am ehesten lässt er sich noch als eine 90-minütige Reportage beschreiben, die – sieht man einmal von der Länge ab – perfekt in ein typisches Kulturmagazin der Dritten Programme passt. Nur wirkt sie damit auf einer großen Leinwand deplaziert.
Ständig schiebt Oliver Rauch Autobahnimpressionen in seine Chronik eines Schuljahres ein. Das liegt sogar in gewisser Hinsicht nahe, auch wenn er damit gängige Ruhrgebietsklischees distanzlos bedient – aber das nur nebenbei bemerkt. Schließlich verbringen auch die Musiklehrer viel Zeit in ihren Autos. Sie sind immer unterwegs, um die Grundschüler direkt vor Ort zu unterrichten – was übrigens von Seiten einiger Musiklehrer durchaus zu Kritik an dem Programm und seiner Organisation geführt hat. Diese Kritiker kommen allerdings in Oliver Rauchs Dokumentation praktisch nicht zu Wort. Sie hätten auch kaum in sein affirmatives Konzept gepasst, das eher auf die Selbstdarstellung hoher Politiker und Kulturbeamter setzt als auf eine differenzierte Darstellung des Programms. Aber diese Autobahnbilder haben noch eine ganz andere Funktion. Sie sollen so etwas wie Kino simulieren. Nur hat Rauch all diese Fahrten filmisch derart banal und austauschbar realisiert, dass sie genau den entgegengesetzten Effekt haben. Als reines Füllmaterial zeugen sie von einer visuellen Einfallslosigkeit und einer gedanklichen Einfältigkeit, die eigentlich nicht einmal in einer zehnminütigen Fernsehreportage akzeptabel wären. Auf der Kinoleinwand erweisen sie sich als fortgesetzte ästhetische Bankrotterklärung.