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    Blond
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Blond

    Stark und verstörend – aber auch ein Skandalfilm?

    Von Björn Becher

    Was wurde im Vorfeld von „Blond“ nicht alles über den Marilyn-Monroe-Film von Regisseur Andrew Dominik („Killing Them Softly“) diskutiert und spekuliert? Weil das Projekt so lange auf sich warten ließ, machten Meldungen die Runde, dass Netflix kalte Füße bekommen habe und den Film womöglich gar nicht mehr veröffentlichen wolle. Grund dafür seien vor allem die brutalen Darstellungen sexueller Akte. Als „Blond“ in den USA dann auch noch die meist nur für Porno-Produktionen reservierte Altersfreigabe NC-17 bekam, befürchteten deshalb einige Kommentator*innen, dass Marilyn Monroe nun 60 Jahre nach ihrem Tod noch ein weiteres Mal sexuell ausgebeutet werde.

    Aber selten war eine solche Befürchtung unnötiger. Mit einem unbedingten Stilwillen kommt Dominik dem leidenden Menschen Norma Jeane so nahe wie noch niemand zuvor – und er trennt sie dabei klar von der Leinwand-Persona Marilyn Monroe ab. Wie schon im zugrundeliegenden Roman von Joyce Carol Oates wird dabei keinerlei Anspruch auf eine authentische Darstellung von Ereignissen erhoben.

    Stattdessen taucht das Publikum im Rahmen einer fiktionalisierten Darstellung tief in eine geschundene Seele ab. Die hohe Altersfreigabe ist dabei wohl vor allem mehreren Nacktszenen der grandiosen Hauptdarstellerin Ana de Armas („Knives Out“) und einem während einer Missbrauchsszene für Sekundenbruchteile zu sehenden erigierten Penis geschuldet. Denn obwohl „Blond“ absolut verstörende Passagen hat (man sieht John F. Kennedy danach bestimmt nie wieder mit denselben Augen), ist er sicher nicht der Skandalfilm, zu dem er im Vorfeld gemacht wurde.

    In einer Dreier-Beziehung findet Norma Jeane kurz ihr Glück.

    In seinem selbstverfassten Drehbuch hangelt sich Andrew Dominik dabei wie in einem klassischen Biopic mit einigen Zeitsprüngen chronologisch am Leben von Norma Jeane alias Marilyn Monroe entlang. Zu Beginn erleben wir, wie die kleine Norma (hier noch: Lily Fisher) an ihrem siebten Geburtstag von ihrer alleinerziehenden Mutter Gladys Pearl Baker (Julianne Nicholson) das Foto eines Mannes gezeigt bekommt, der ihr Vater sein soll. Einen Namen gibt es zwar nicht, aber dafür die Andeutung, dass es sich um eine Hollywood-Persönlichkeit handele. Als Höhepunkt der visuell dramatischsten Sequenz des Films, in der Gladys mitten in einen Waldbrand hineinfährt, statt vor den Flammen zu flüchten, versucht die Mutter, ihre Tochter in der Badewanne zu ertränken.

    Gladys wird deswegen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und nach einigen Jahren im Waisenhaus landet Norma (nun: Ana de Armas) selbst in der „Traumfabrik“. Nachdem sie der Studioboss mindestens missbraucht, wenn nicht gar geradeheraus vergewaltigt hat, macht sie als Marilyn Monroe Karriere, die Dominik weniger anhand ihrer größten Filmhits, sondern anhand dreier nicht vollendeter (nie offiziell bestätigter) Schwangerschaften nachzeichnet. Gefangen in ihrem persönlichen Albtraum der blonden, dauerlächelnden Kunstfigur, sucht Norma ihr Glück – und bildet sich ein, dieses erst finden zu können, wenn sie ihrem ihr anonyme Briefe schickenden Vater begegnet…

    Eine positiv erdrückende Inszenierung

    „Blond“ ist trotz der chronologischen Abfolge alles andere als ein klassisches Biopic – was Dominik auch mit seiner überbordenden Inszenierung samt Sprüngen zwischen Schwarz-Weiß und Farbe sowie verschiedenen Bildformaten selbst innerhalb einzelner Szenen unterstreicht. Wenn Oscarpreisträger Adrien Brody („Der Pianist“) als Arthur Miller auftaucht, wirkt das körnige Material, als würden wir gerade einen Film-im-Film sehen. So unwirklich muss es sich vielleicht auch für die Protagonistin angefühlt haben, einen Mann zu treffen, der dann – wenn auch erst nach einiger Zeit und mit viel Verwunderung – erkennt, dass hinter dem Sexsymbol eine intelligente Tschechow-Expertin steckt. Er ist jemand, der sich tatsächlich in sie verliebt – und nicht nur in die Kunstfigur, wie zuvor etwa der Baseballstar Joe DiMaggio (Bobby Cannavale).

    „Das Ding auf der Leinwand bin nicht ich“, sagt Norma einmal und redet dabei von „Marilyn Monroe“ in der dritten Person. Die virtuose Inszenierung dient vor allem zur Illustration des Albtraums, den dieses (Doppel-)Leben für Norma bedeutet. Da verfolgt die wackelige Handkamera eine vor den Abtreibungsärzten fliehende Norma durch die düsteren Krankenhausflure, nur um sie dann auf der anderen Seite einer Tür in ihrem brennenden Kindheitshaus ankommen zu lassen. Horror-Qualität haben auch die weit aufgerissenen, digital verzerrten Mäuler des ihren Namen schreienden Männerpulks am Roten Teppich. Das erdrückende Element der Massen wird gar mehrfach aufgegriffen, wenn es am Filmset etwa plötzlich voll wie in einem Fußballstadion ist.

    Marilyn Monroe wird immer wieder von den Massen verfolgt.

    Sex ist dabei ein wichtiger Teil der Erzählung. Studioboss Zanuck (David Warshofsky) vergreift sich ebenso an der noch unbekannten Jungschauspielerin wie später auch John F. Kennedy (Caspar Phillipson), wenn er die Leinwandlegende extra für einen erniedrigenden Blow-Job einfliegen lässt. Historisch verbrieft sind beide Szenen nicht, aber Dominik erweckt eben auch zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, Geschichte nachzustellen. Gerade die Begegnung mit dem US-Präsidenten ist sogar ins völlig Groteske überdreht. Da telefoniert JFK während des Akts mit einem FBI-Agenten wegen der kursierenden Frauengeschichten und im TV läuft ein billiger Sci-Fi-Film, dessen Bilder voller Phallus-Symbole schließlich seinen Orgasmus untermalen. Wenn die Secret-Service-Beamten die halb weggetretene Marilyn dann wegschleppen, scheint es auch möglich, dass das alles nur ein Fiebertraum im Drogenrausch war.

    Sex setzt Dominik zugleich aber auch ein, um die wenigen glücklichen Momente im Leben von Norma zu illustrieren. Die Dreier-Beziehung mit den Söhnen der Leinwandlegenden Charlie Chaplin und Edward G. Robinson lässt Norma kurz erstrahlen – und hier steht im Bett dann auch mal ihre eigene Lust im Vordergrund. Aber immer lauert das Unheil bereits am Horizont. In einer ästhetisch eindrucksvollen Szene verschmelzen die nackten Körper der drei Liebenden erst miteinander, bevor aus dem Bett Wasserfälle werden und mit einem Match-Cut zur Kinopremiere von „Niagara“ geblendet wird. Also jenem Film, der Monroe endgültig zum Superstar machte, sie zugleich aber auch komplett auf ihren Sex-Appeal reduzierte. Dominik zitiert mit dieser Spielerei zugleich auch das originale Poster zum Film, das eine riesengroße Monroe zeigt, die sich auf den Niagarafällen räkelt, als wären diese ein Bett. Ihr Kleid und das Wasser werden dabei eins und es entsteht die Illusion, dass sie eigentlich nackt ist.

    Monroe-Klassiker mit anderen Augen sehen

    Immer wieder nutzt Dominik die bekanntesten Filme des Superstars, um Monroes öffentliches Bild mit der privaten Norma zu konterkarieren. Szenen blenden dabei ineinander über, verschwimmen miteinander. So rückt er diverse Klassiker bitterbös in ein anderes Licht. „Blondinen bevorzugt“ wird zu dem Film, für den Norma „ihr Baby getötet hat“. Eine lustige Szene rund um die Tollpatschigkeit ihrer Figur in „Manche mögen’s heiß“ setzt er in einen direkten Zusammenhang mit einem Unfall, bei dem sie in „Blond“ ein weiteres ungeborenes Kind verliert.

    Der Score von Songwriter-Legende Nick Cave und seinem „Bad Seeds“-Bandmitglied Warren Ellis trägt gemeinsam mit den ständigen Explosionen der Blitzlichtbirnen der omnipräsenten Fotografen zur verstörenden Wirkung des Films bei. Irgendwann verschwimmt alles: Norma, Marilyn, die Männer, der Sex, die Drogen, die Abtreibungen, Unterhaltungen mit dem nie geborenen Baby und die anonymen Briefe des Vaters, die jedes Mal aufs Neue ein baldiges erstes Treffen versprechen. Am Ende dürften sich viele im Publikum ähnlich verloren fühlen wie Norma, wozu auch der konsequent-abrupte Schluss passt. So orientierungslos man dann den Kinosaal verlässt oder das Netflix-Abspielgerät ausschaltet, ein Gefühl wird man aber sicherlich mitnehmen – und zwar eine größtmögliche Empathie für Norma!

    Die Ehe mit dem Dramatiker Arthur Miller erscheint zeitweise fast wie ein eigener Liebesfilm im Film.

    Das einem die Ikone noch einmal auf eine ganz andere Art ans Herz wächst, ist auch ein Verdienst der herausragenden Hauptdarstellerin. Mit viel Skepsis wurde das Casting von „Keine Zeit zu sterben“- und „Knives Out“-Star Ana de Armas teilweise kommentiert. Mehrfach sah sich Andrew Dominik genötigt, offen zu verteidigen, dass er die Schauspielerin unbedingt wollte, nachdem er sie im Horror-Thriller „Knock Knock“ sah. Und seine Wahl passt - weniger wegen eines möglichst ähnlichen Aussehens, sondern weil de Armas in der Quasi-Doppelrolle vor allem als geschundene Seele Norma Jeane voll aufgeht.

    Fazit: Andrew Dominik hat sich nach der NC-17-Freigabe beschwert, dass jede Episode der Hit-Serie „Euphoria“ grafischere und explizierte Darstellung habe als „Blond“. Und da hat er nicht Unrecht. Aufregen werden sich aber sicher einige Monroe-Fans darüber, wie die Leinwandikone hier vom Sockel gestoßen wird, um Platz für die Frau dahinter zu machen: „Blond“ ist weniger ein Film über Marilyn Monroe, sondern vor allem einer über Norma Jeane, welche die grandiose Ana de Armas mitreißend als unglückliche, geschundene, sich nach ihrem Vater sehnende Gefangene in einem einfach nicht enden wollenden Albtraum porträtiert.

    Wir haben „Blond“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

     

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