Andres Veiel ist einer der aufregendsten deutschen Dokumentarfilmer, weil er sich nie darauf beschränkt, ein Thema einfach nur für die Leinwand aufzuarbeiten, sondern immer auch nach einem künstlerischen Ansatz sucht. So hat er in seinem brillanten „Der Kick" einen Foltermord im Brandenburgischen Ort Potzlow reflektiert, indem er Schauspieler in den Rollen der Beteiligten auf einer Theaterbühne deren Gedanken aussprechen ließ. Sein bekanntestes und meistausgezeichnetes Werk bleibt aber „Black Box BRD" (Deutscher und Europäischer Filmpreis), in dem er die Biographien des Deutsche-Bank-Sprechers Alfred Herrhausen und seines mutmaßlichen Mörders Wolfgang Grams von der Rote Armee Fraktion einander gegenüberstellt. Deshalb überrascht es nun kaum, dass sich Andres Veiel auch für seinen Debütspielfilm einen RAF-Stoff ausgesucht hat. „Wer wenn nicht wir" setzt dabei viel früher ein, als die meisten anderen Filme zu dieser Thematik, nämlich schon 1961. Aber so ungewöhnlich „Wer wenn nicht wir" als RAF-Annäherung auch sein mag, so gewöhnlich ist er doch als an Generationenkonflikten aufgehängte Kinobiographie.
Bernward Vesper (August Diehl) tritt als Literaturstudent in die Fußstapfen seines Vaters Will Vesper (Thomas Thieme), der es mit seinen Blut-und-Boden-Romanen unter den Nazis zum Bestsellerautor gebracht hat. Weil er sich die Schuld des Erzeugers nicht ganz eingestehen will, gründet Bernward einen eigenen Verlag, um die Werke des Vaters neu aufzulegen und so noch einmal zur Diskussion zu stellen. Dabei hilft ihm seine Kommilitonin Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis), die ebenfalls an der Schuld ihres Vaters (Michael Wittenborn) zu knappern hat. Als Pastor hatte dieser zwar die Probleme erkannt, sich aber seinem Schicksal ergeben und sich 1941 freiwillig zum Wehrdienst gemeldet. In den folgenden Jahren ist die Beziehung von Bernward Vesper und Gudrun Ensslin ein ständiges Auf und Ab. Sie stehen für freie Liebe, können aber mit der Eifersucht nicht umgehen. Er glaubt daran, mit Worten die Welt verändern zu können, sie ist eine Frau der Tat. Und dann trifft sie bei einem revolutionären Treffen auf einen sympathischen jungen Draufgänger, der davon schwärmt, Kaufhäuser in Brand zu stecken. Sein Name: Andreas Baader (Alexander Fehling).
Die Beziehung der RAFler zu ihrer Elterngeneration kommt in vielen Filmen zum Thema nebenbei mit zur Sprache. Trotzdem ist es durchaus sinnvoll, das Ganze einmal von vorne aufzurollen und bereits sechs Jahre vor dem ersten Zusammentreffen von Gudrun Ensslin und Andreas Baader einzusetzen. Dass die spätere Widerständlerin Anfang der 60er Jahre tatsächlich ihrem späteren Ehemann dabei geholfen hat, die Nazi-Erbauungsliteratur seines Vaters unters Volk zu bringen, dürfte für einen Großteil des Publikums sicherlich ein ebenso neues wie überraschendes Detail ihrer Biographie darstellen. Leider gelingt es Andres Veiel dabei nicht, seinen dokumentarischen Gestus vollends abzustreifen, weshalb dem Ganzen immer auch etwas Oberlehrerhaftes anhaftet. Dazu passen auch die wiederholten Einschübe von originalem Filmmaterial vom Schah-Besuch in Berlin bis zur Napalm-Bombardierung Vietnams: Hochschul-Seminar lässt grüßen! Nur in einer Szene bricht der Regisseur aus diesem einengenden Korsett aus, wenn Gudrun Ensslin nämlich ihr Geschlecht in einen Haufen Glasscherben drückt, um auf diese äußerst ungewöhnliche und schmerzhafte Weise Selbstmord zu begehen. Da erübrigt es sich fast zu erwähnen, dass daraus die eindringlichste Szene des Films geworden ist. Manchmal hilft es eben, wenn man nicht alles hundertprozentig durchschaut, sondern sich auch mal auf sein Gefühl verlassen muss.
Die zweite Hälfte von „Wer wenn nicht wir", in der die Anfänge der RAF geschildert werden, ist zwar insofern etwas Besonderes, als dass die Auswirkung des revolutionären Widerstands auf die Beziehung und die Familie von Gudrun Ensslin in den Mittelpunkt gerückt werden, aber leider scheitert dieser Part bereits an den Schauspielern. August Diehl („Salt") hat den langsam in den Wahnsinn Abgleitenden zwar schon vor mehr als einer Dekade in Hans-Christian Schmids „23" zur meisterlich dargestellt, aber diesmal bleiben ihm gerade einmal drei Szenen, um den Wandel vom verlassenen Ehemann zum drogenabhängigen Irren, der kurz davor ist, seinen eigenen Sohn aus dem Fenster zu schmeißen, glaubhaft zu vermitteln – ein Ding der Unmöglichkeit. Theaterstar Lena Lauzemis („Hitlerkantate"), seit 2006 festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele, schlägt sich zwar in der ersten Hälfte wacker, bleibt als RAF-Anführerin aber ziemlich blass. Dieser Aspekt der Rolle ist Johanna Wokalek in „Der Baader Meinhof Komplex" deutlich überzeugender gelungen. Dasselbe gilt auch für Alexander Fehling („Goethe!"), der dem Andreas Baader von Moritz Bleibtreu nicht das Wasser reichen kann. Zwar beleuchtet Andres Veiel auch die androgynen Seiten des Revoluzzers und dessen Beziehungen zur Berliner Schwulenszene gleich mit, aber Baaders dandyhafte Auftritte lassen nicht einmal dann eine bedrohliche Atmosphäre aufkommen, wenn er auf Gudrun Ensslin einprügelt, nur weil diese nicht aufhören kann, an ihre zurückgelassene Familie zu denken.
Fazit: Nur selten mitreißende Leinwandbiographie, die zu sehr auf einen erhobenen Zeigefinger und zu selten auf filmische Mittel setzt.