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    Wir sind was wir sind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wir sind was wir sind
    Von Marian Petraitis

    Wie gruselig wäre Hannibal Lecter wohl ohne sein Verlangen nach menschlichem Fleisch gewesen? Eine der abgründigsten und zugleich fesselndsten Figuren der jüngeren Filmgeschichte verhalf Anthony Hopkins nicht nur zu seiner oscarprämierten Paraderolle, sondern lotete treffend die zwischen Abscheu und Faszination pendelnde Popkultur-Perspektive auf den Kannibalismus aus. Für sein Langfilmdebüt greift der Mexikaner Jorge Michel Grau das Motiv für eine ganz eigene Lesart auf. In „Wir sind was wir sind" zeichnet er ein zunächst gänzlich unblutiges und behutsam inszeniertes Arthouse-Horrordrama, das den Kannibalismus als Metapher für eine sich zerfleischende Gesellschaft nutzt. Was zunächst abgedroschen und sperrig klingen mag, überzeugt bis kurz vor dem Schlussakt als vielschichtige Reflexion über Tod, Macht, Verlangen und die Untiefen einer vordergründig modernen Gesellschaft. Gegen Ende jedoch verliert der überambitionierte „Wir sind was wir sind" ein Stück weit seine innovative, klare Linie.

    Nach dem Tod ihres Vaters stehen Mutter Patricia (Carmen Beato) sowie die drei Geschwister Alfredo (Francisco Barreiro), Julián (Alan Chávez) und Sabina (Paulina Gaitan) vor einer existenziellen Frage: Wer soll den Platz des verstorbenen Oberhauptes einnehmen und als neuer „Ernährer" die Familie versorgen? Letzteres muss dabei wörtlich genommen werden, denn die Familie lebt als Kannibalen lediglich von Menschenfleisch. Der introvertierte Alfredo soll als ältester Bruder die Nachfolge antreten und für das familiäre Ritual ein Menschenopfer finden. Doch der gewaltbereite Julián will die Entscheidung nicht akzeptieren und in der Familie entbrennt ein Machtkampf. Die Situation gerät zunehmend außer Kontrolle, die Rivalitäten drohen die Familie zu zerstören. Als sich dann auch noch die Polizei an die Fersen der Kannibalen heftet und die Zeit für das Ritual abzulaufen droht, beginnt für die Familie ein Kampf um Leben und Tod...

    Sehr schnell macht Regisseur Grau deutlich, was für ein Bild der im Fokus stehenden Familie er entwerfen will. Ablehnung, Wut, Sprachlosigkeit und Brutalität bestimmen die Familie, alles wirkt wie ein stetiges, aussichtsloses Ringen um Anerkennung und Zuneigung, Sicherheit und Geborgenheit. Das Motiv des Kannibalismus ist dabei allgegenwärtig. Sabina glaubt all dies bei ihrem Bruder Alfredo zu finden und versucht sich ihn mit einer Mischung aus sexuellem Interesse und manipulativen Machtstreben einzuverleiben. Alfredo selbst wird von den familiären Erwartungen geradezu aufgefressen und muss dank dem zunehmenden Wunsch nach Individualität schließlich entscheiden, ob er seine homosexuellen Interessen der Familie opfert oder nicht. Mutter Patricia drängt auf das Ritual, um das Erbe der Familie aufrechtzuerhalten und würde dafür notfalls auch ihre eigenen Kinder opfern...

    Auch über die Familie hinaus begegnet das Publikum einer abgründigen, lebensfeindlichen Welt. Die ermittelnden Polizisten sorgen sich bei der Jagd nach den Kannibalen nur um den eigenen Ruhm, die von den Menschenfressern angegriffenen Prostituierten wollen der Staatsmacht die Ermittlungen durch Sex mit einer Minderjährigen schmackhaft machen. Jeder kämpft für sich und seine Begierden, der jeweils Schwächste wird zum Opfer. Fressen und gefressen werden – das bestimmt nicht nur das Leben der Kannibalen, sondern den Zustand der gesamten Gesellschaft. Grau bringt sein Programm mit düsterem Realismus und einer reduzierten Inszenierung auf die Leinwand. Anstatt nur auf blutiges Gemetzel zu setzen, konfrontiert er sein Publikum mit empathielosen, gleichgültigen Figuren und fordert ihn so zu einer eigenständigen, aktiven Auseinandersetzung mit dem Geschehen auf.

    Dass einem über Graus phasenweise sehr abstrakte Entwürfe nicht das Interesse am Geschehen verloren geht, verdankt der Film nicht zuletzt der hervorragenden Kamera, die den dystopischen Charakter der Erzählung in stimmige Bilder fasst. Aber auch mithilfe der starken Schauspieler gelingt es ihm eindrucksvoll, die stummen und stumpfen Figuren vermittelbar zu gestalten. Erst kurz vor dem Ende verliert Grau, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, den den roten Faden. Als das Ritual beginnen kann und die Polizei bedrohlich nahe rückt, fällt „Wir sind was wir sind" zurück und wird zum konventionellen, blutgetränkten Horror-Streifen.

    Grau lässt sich sogar noch zu einem melodramatischen und dick aufgetragen symbolischen Ende hinreißen, welches Präzision und Eindringlichkeit der vorangegangenen Erzählung vermissen lässt. Ein Problem, dass nicht zuletzt auch mit der schieren Fülle der Themen zu tun hat, die Grau während der knapp 100 Filmminuten aufwirft und die zum Schluss kaum noch zusammengeführt und vertieft werden. Trotzdem bleibt „Wir sind was wir sind" sehenswert – nicht unbedingt für Fans des Horrorgenres, sondern als eindrücklich erzähltes und präzise inszeniertes Drama, das sich dem Motiv Kannibalismus auf innovative Weise abseits von eindimensionaler Affektbedienung nähert und das dystopische Porträt einer Gesellschaft zeichnet, deren allgegenwärtiger Schrecken näher wirkt, als es einem lieb sein kann.

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