Der Wettbewerb der 63. Filmfestspiele von Cannes war ein durchwachsener Jahrgang. Doch gerade als die gewohnt festivalkritische Journaille das Schaulaufen an der Croisette endgültig in Grund und Boden schreiben wollte, stürmte aus dem fernen Thailand ein Film den Wettbewerb, der alle anderen Beiträge in den Schatten stellte und dessen Auszeichnung mit der Goldene Palme deshalb nur logisch und hochverdient ist. Regisseur Apichatpong Weerasethakuls surreal-spirituelles, mit deutschem Geld co-produziertes Geister-Drama „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" ist ein betörend-faszinierendes Mysterium, dessen Bildsprache den Betrachter in hypnotisch-tranceähnliche Sphären entführt.
Im abgelegenen Nordosten Thailands sieht der an akuter Niereninsuffizienz leidende Mittvierziger Boonmee (Thanapat Saisaymar) seinem Ende entgegen. Er hat seine Schwägerin Jen (Jenjira Pongpas) und seinen Neffen Tong (Sakda Kaewbuadee) zu sich gerufen, um in Frieden zu sterben. Als das Trio am Abend auf der Veranda zusammensitzt, gesellt sich plötzlich Boonmees vor 19 Jahren verstorbene Frau Huay (Natthakarn Aphaiwonk) zu ihnen. Und nur wenig später taucht dann auch noch Boonmees vor langer Zeit verschwundener Sohn Boonsong (Geerasak Kulhong) auf. Dieser hat inzwischen die Form eines Geisteraffen angenommen, einer mysteriösen Spezies, die Boonsong damals erforschen wollte. Gemeinsam mit seinen Liebsten macht sich Boonmee auf den Weg zurück zu seinem Ursprung – einer Höhle, die nicht allzu weit von seinem Haus entfernt liegt...
Der unerschütterliche Glaube daran, in verschiedenen Formen wiedergeboren zu werden, ist noch immer tief in der thailändischen Kultur verankert. Auch Apichatpong Weerasethakul („Blissfully Yours", „Tropical Malady", „Syndromes and a Century") bekennt sich zu dieser Lebenseinstellung, die in letzter Zeit von der Regierung immer stärker in Frage gestellt und geächtet wird. Der Regisseur will mit seinem Film zur Bewahrung dieser historisch gewachsenen Spiritualität beitragen und einen Gegenpol zu deren von Staatsseite propagierter Verbannung aus dem Denken des thailändischen Volkes setzen. Dazu nutzt Weerasethakul moderne wie klassische Stilmittel und lädt seine Geschichte fast bis zum Bersten mit mythischen Motiven und Stimmungen auf. Nach einer zu Beginn noch chronologischen Erzählung entfaltet er einen zunehmend surreal-magischen Sog aus fantastischen Bildfolgen, die die Grenzen von Leben und Tod mühelos verschwimmen lassen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Weerasethakul Diesseits und Jenseits miteinander verschränkt, mag aus einer westlichen Sicht zunächst naiv anmuten, doch dieser Vorwurf greift nicht. Der Regisseur hat seine surrealen Sequenzen so versiert und brillant montiert, dass sein erzählerisches Universum eine Evidenz und eine ganz eigene Relevanz gewinnt, der sich selbst größte Skepsiker kaum entziehen können dürften. Wann Boonmee eins wird mit seinen früheren Leben, ist nicht klar auszumachen, der Film wird vielmehr zu einem halluzinatorischen Fiebertraum, in dem alle Grenzen aufgelöst sind. Dabei ist die künstlerische Welt des Filmemachers keineswegs von der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu trennen, das Werk ist unterschwellig mit politischem Subtext aufgeladen.
Weerasethakul geißelt die totalitäre Militärgewalt Thailands, indem er seinen Film in einer Region spielen lässt, in der im Kampf gegen den Kommunismus über Jahrzehnte im Auftrag der Regierung gemordet wurde. Mit „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" schließt der Regisseur sein Primitive Project ab, das außerdem die Video-Installation „Phantom Of Nabua" und den Kurzfilm „A Letter To Uncle Boonmee" umfasst. Alle drei Arbeiten handeln von Nabua, einer Stadt, deren Bevölkerung Opfer brutaler Staatsgewalt wurde. Später nimmt der Regisseur auch noch Bezug auf das Klima der Gewalt, das aktuell in Thailands Straßen herrscht, indem er Geisteraffen von Soldaten domestizieren lässt, was noch einmal sinnbildlich für den Versuch steht, den Glauben des Volkes dahinzuraffen. Wie in einer Fotocollage frieren die Bilder der Soldaten und ihres gebändigten Affen immer wieder ein, was den anhaltenden Stillstand Thailands symbolisiert. Ansonsten setzt Weerasethakul auf ausgefeilte Tableaus, deren volle hypnotische Wirkung sich nicht zuletzt auch dank der magischen Kameraarbeit von Sayombhu Mukdeeprom, Yukontorn Mingmongkon und Jarin Pengpanitch sowie des meditativen Sounddesigns von Akritchalerm Kalayanamitr und Koichi Shimizu voll entfalten kann.
Wenn es um Sex geht, war Weerasethakul, der seinen Protagonisten in „Tropical Malady" eine Wassermelone penetrieren ließ, noch nie zimperlich. In „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" fährt der Regisseur nun ähnliche Geschütze auf, ohne dabei aber in den Verdacht zu geraten, lediglich einen Skandal provozieren zu wollen. Dafür mutet die Sequenz viel zu homogen an und ist zu perfekt in den Fluss der Bilder eingefügt. Eine einstmals wunderschöne Prinzessin (Wallapa Mongkolprasert) lässt sich von einem Wels umgarnen und mit Komplimenten befeuern, bis der Fisch sie zum krönenden Anschluss oral im Wasser befriedigt. Die Antwort darauf, in welcher der vielen möglichen Formen Boonmee denn nun reinkarniert ist, überlässt Weerasethakul clevererweise der Vorstellungskraft seines Publikums. Entweder in dem Wels, oder auch in dem Büffel aus der mehrminütigen Eröffnungssequenz, in der er erst mutig das Weite sucht, bevor er von seinen Besitzern wieder eingefangen wird.
Die Schauspieler drängen sich bei „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" nicht in den Vordergrund, sondern sind Teil eines homogenen Gefüges. Neuling Thanapat Saisaymar gibt einen wundervoll entspannten Uncle Boonmee, der mit Gelassenheit dem Sterben entgegensieht und eine geerdete Weisheit ausstrahlt. Die übrige Besetzung, die sich unter anderem aus den Weerasethakul-Stammschauspielern Jenjira Pongpas, Natthakarn Aphaiwonk und Sakda Kaewbuadee zusammensetzt, ergänzt Salsaymars Spiel mit Wärme und Demut. Und sie alle steuern diesen feinen Humor bei, der den Film bei aller mystischen Elektrizität so unendlich liebevoll macht.
Inszenatorisch verbindet Weerasethakul seinen auf lange Sequenzen und Einstellungen setzenden Avantgardestil mit Rückgriffen auf das thailändische Monsterkino der 50er und 60 Jahre, das der Regisseur eigenen Angaben zufolge so sehr liebt, dass er ihm eine Hommage erweist. Die Geisteraffen sind ganz bewusst und deutlich erkennbar Darsteller in einem Kostüm. Um dieses Manko zu kaschieren, beließen Filmemacher diese Kreaturen früher oft im Dunkeln und versahen sie zum Ausgleich mit rotglühenden Augen, damit der Zuschauer sie überhaupt erkennen konnte. Diesen Taschenspielertrick greift Weerasethakul nun auf. Ähnlich wie Quentin Tarantino bezieht auch der Thailänder abseitig-trashige Elemente aus der Filmgeschichte spielerisch in sein Werk ein und schafft in der Montage disparater Elemente fast so etwas wie eine ganz neue Kunstform.
Fazit: Auch wenn „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" etwas zugänglicher ist als die früheren Arbeiten des Regisseurs, so ist der Film doch sicherlich nicht für jedermann geeignet. Eine Portion Aufgeschlossenheit sollte man schon mitbringen. Mit atemberaubender künstlerischer Souveränität lotet Apichatpong Weerasethakul die Beziehung zwischen Mensch und Natur, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus, untermauert sie mit politischem Subtext und schafft so ein einzigartiges, mystisches Filmerlebnis. „Wenn dein Geist frei ist, kannst du überall hingehen, ohne selbst dort zu sein", rät Boonmee seinem Neffen Tong einmal, was in der finalen Sequenz des Meisterwerks schließlich seinen Widerhall findet. Zu diesem Zeitpunkt hat Weerasethakul seinen Zuschauer zwar längst in Sphären geführt, die nicht mehr dieser Welt entsprechen, aber das hindert ihn nicht daran, in der Schlusseinstellung noch einen draufzusetzen und sein Publikum so mit einer wohligen Gänsehaut zu entlassen...