Der thesenhafte Kunstfilm „Vier Leben" ist spröde und phasenweise ziemlich langweilig. Es gibt keine Dialoge, keine Musik, keine Tricks – sondern eine statische Kamera, ständige Wiederholungen und enorme Langsamkeit. Dennoch ist der stille Film des italienischen Regisseurs Michelangelo Frammartino, sofern der Betrachter es zulässt, ein schönes und lohnenswertes Kino-Erlebnis. Vom Kreislauf des Lebens will der in Cannes uraufgeführte Film erzählen, was auf beinahe archaische Weise gelingt, weil die strenge ästhetische Form stets mit einer inhaltlichen Offenheit einhergeht. So sind es eigentlich nur drei Leben, die Frammartino zeigt: Das vierte Leben aus dem Titel ist das des Zuschauers.
Ein kleines Dorf in Kalabrien; im Hintergrund ein großer Wald und eine Bergkette - hier lebt ein alter Ziegenhirte (Giuseppe Fuda), der täglich mit seinen Tieren ins Gebirge zieht. Der Alte hustet fortwährend; ein chronisches Leiden, das er durch die Einnahme von Kirchenstaub lindern will. Stoisch geht der Mann seiner alltäglichen Beschäftigung nach, bis er eines Morgens tot im Bett liegt. Nach seiner Beerdigung kommt ein Zicklein zur Welt. Als der neue Hirte die Ziegen auf die Bergwiese führt, geht das Jungtier verloren und irrt – zum Sterben verurteilt – durch den Wald. Dann ist Maifest: Eine große Tanne wird gefällt und im Dorf aufgestellt. Später bringen die Männer den Baumstamm an den Rand der Siedlung und stellen in alter Tradition Holzkohle her.
Mensch, Tier und Pflanze stehen in dieser einfach gestrickten Erzählung nebeneinander. Diese implizite Botschaft ist die einzige feststehende Aussage des Films: Alles Leben ist gleichwertig. Man könnte in den Mineralien, die aus der Asche der Tanne entstehen, ein viertes Leben ausmachen. Besser passt eine andere These: Der Vierte im Bunde ist der Betrachter, der zum aktiven Part der filmischen Erzählung avanciert, weil die karge Inszenierung eine sinnstiftende Interpretation geradezu erzwingt. In formaler Hinsicht ist „Vier Leben" Kino in Reinform. Der konsequent durchgehaltene Verzicht auf Dialoge und Musik lenkt den Blick mehr als üblich auf die bewegten Bilder, die Hintergrundtöne und die Montage.
„Vier Leben" ist ein Fels in der cineastischen Brandung, fordert geradezu zum Innehalten abseits einer atemlosen Kino-Popkultur auf. Michelangelo Frammartino verstärkt diese Anlage zunächst durch die von bewegten Standbildern geprägte Kameraarbeit, die zwar gelegentlich einen Zoom oder Schwenk vollführt, jedoch zu keiner Zeit in dynamische Bewegung gerät. Daneben nutzt Frammartino einige Wiederholungen und Variationen, um den Blick noch mehr zu schärfen: Dieselbe Einstellung in einem anderen Kontext oder mit veränderten Details – eine Art Suchbild, bei dem der Betrachter tatsächlich noch das ganze Bild sieht, und nicht nur den Ausschnitt, den Inszenierung und Montage gerade anbieten.
In einer langen, fulminanten Plansequenz kurz vor dem ersten Wendepunkt verdichtet „Vier Leben" seinen Charakter auf geniale Weise. Es beginnt absurd: Männer in Römerkostümen betreten die Straße. Kurz darauf läuft eine Prozession durchs Bild, der Hund des Hirten, dessen Ziegen und Haus im Bild sichtbar sind, läuft aufgeregt zwischen den Leuten umher. Die Kamera schwenkt, wobei der Hund den Rhythmus vorgibt. Es geht um Verkettungen, Tod und Geburt, um genaues Beobachten und das rege Leben, das plötzlich in diesem Bild stattfindet. Am Ende, nachdem ein kleines Unglück passiert ist, laufen die Ziegen durchs Dorf und ein harter Schnitt zeigt die Geburt des Zickleins. Es ist schwer, diese herausragende angemessen nachzuerzählen. Auch in dieser Hinsicht spiegelt sie die Philosophie des gesamten Films: „Vier Leben" muss mit eigenen Augen gesehen werden.