Über 20 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen. Nach Öffnung der Grenzen erreichen uns in regelmäßigen Abständen Filme, die sich in der einen oder anderen Weise mit der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen. Filme wie Sonnenallee betonen die skurrile Seite, andere wie Das Leben der Anderen die hässlichen Aspekte des Lebens im ehemaligen SED-Staat. Nun erzählt der TV-erfahrene Regisseur Matti Geschonneck eine Geschichte, die beide Seiten in gelungener Form vereint: Sein tragikomisches Drama „Boxhagener Platz“, das als Berlinale Special seine Premiere passenderweise in der Hauptstadt erlebte, ist ein angenehm stiller Film geworden, da er weder offensiv Ost-Kalauer bemüht noch den moralischen Zeigefinger hebt.
Holger (Samuel Schneider) kann sich über seine Oma Otti (Gudrun Ritter) nicht beklagen: Die alte Frau ist alles andere als auf den Mund gefallen und versorgt den immer mit leckerem Essen. Auch die rüstige Rentnerin kann ganz zufrieden sein, denn die Männerwelt liegt ihr praktisch zu Füßen. Ihr momentaner Ehemann tut dies sogar im wahrsten Sinne des Wortes, er muss seit einiger Zeit das Bett hüten. Aber während der vor sich hin kränkelt, stehen schon zwei andere Senioren für Otti, die bereits fünf Gatten überlebt hat, parat: Einer ist der Fisch-Winkler (Horst Krause), der ihr heftige Avancen macht. Auch der ehemalige Saufkumpan ihres Mannes, Karl Wegner (Michael Gwisdek), scheint ein Auge auf die betagte Dame geworfen zu haben. Doch dann ist plötzlich der Fisch-Winkler tot und Enkel Holger versucht sich als Detektiv. Und auch dessen Vater Klaus-Dieter (Jürgen Vogel, Der freie Wille, Keinohrhasen, Die Welle), Abschnittsbevollmächtigter der Polizei für die Gegend um den Boxhagener Platz, will den Fall dringend aufklären.
„Boxhagener Platz“ ist keine dieser Komödien voller Zonen-Zoten über die Sonderlichkeiten der DDR, er hat aber auch mit Politik nur so viel zu schaffen wie es für die charakterbetonte Handlung notwendig ist. Jede Form von Ostalgie liegt Matti Geschonneck fern. Im Mittelpunkt stehen Oma Otti, ihr Enkel Holger und das Abenteuer, das die beiden im Berlin der späten 1960er Jahre erleben. Thorsten Schulz, Autor der Romanvorlage und des Drehbuchs, wollte einfach das Lebensgefühl der Zeit einfangen und eine kleine, aber feine Geschichte hinter den geschlossenen Mauern des Ostblocklandes erzählen. Dafür hat er viele Erinnerungen an seine eigene Kindheit am Boxhagener Platz im Berliner Bezirk Friedrichshain einfließen lassen. Der Regisseur hat das Buch gut verstanden und konzentriert sich auf die Figuren und ihre Geschichte. Er erzählt diese mit viel Melancholie, aber auch mit einer guten Portion trockenem Humor, für den vor allem Gudrun Ritter als sarkastische Großmutter sorgt. Die humoristischen Passagen sind stets glaubwürdig in die Handlung integriert, fast immer wenn sich einmal eine kleine Länge einschleicht, ist es ein Spruch von Oma Otti, der den Zuschauer zum Lachen bringt und dem Film wieder zu dessen voller Aufmerksamkeit verhilft.
Die Schauspielerleistungen lassen kaum Wünsche offen. Das darstellerische Highlight ist mit Sicherheit Gudrun Ritter (Ferien, Antikörper), die als Rentnerin keck auftrumpft, aber auch mit leiseren Tönen gefällt. Ebenfalls überzeugend agiert Michael Gwisdek (Hilde, Elementarteilchen) als Karl Wegner, in seiner Figur kommt exemplarisch die Tragik der DDR zum Ausdruck: Als ehemals überzeugter Kommunist ist Karl an dem verlogenen Herrschaftssystem beinahe zerbrochen – und trotzdem hat er sich noch einiges von seiner Ironie und seinem Stolz bewahren können. Nicht so gelungen ist die etwas holzschnittartig geratene Figur des Altnazis Fisch-Winkler. Aber Horst Krause (Schulze Gets The Blues) spielt sie trotzdem so glaubhaft und echt, dass sie einem fast schon wieder bekannt vorkommen mag. Der junge Samuel Schneider als Holger wiederum verblüfft bei seinem ersten Kinospielfilm mit der Unaufgeregtheit eines alten Hasen und findet immer den richtigen Ton. Weitere prominente Nebendarsteller wie Meret Becker (3 Grad kälter, Meine schöne Bescherung) als Holgers Mutter und Milan Peschel (Mitte Ende August, Jud Süß – Film ohne Gewissen) als Onkel Bodo runden die treffliche Besetzung ab.
Fazit: Weniger ist mal wieder mehr. Mit Zutaten aus Komödie, Krimi, Zeitzeugnis und Heimatfilm ist Regisseur Matti Geschonneck ein zurückhaltender und bedächtiger, auf ruhige Art unterhaltsamer Film gelungen, dem kleinere Längen leicht zu verzeihen sind.