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    Wiegenlieder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Wiegenlieder
    Von Christoph Petersen

    Wie soll ein Dokumentarfilm sein Publikum begeistern, wenn die Macher offenbar selbst nicht an ihr Thema glauben? „Können Sie sich an ein Lied erinnern, das ihre Mutter Ihnen zum Schlafengehen gesungen hat?“, fragen die Filmemacher Tamara Trampe und Johann Feindt in ihrer Dokumentation „Wiegenlieder“ Menschen auf den Straßen Berlins. Allerdings nur in den ersten zehn Minuten. Dann bleiben die Regisseure nämlich bei einigen der Befragten hängen und nehmen fortan deren gesamtes Leben unter die Lupe. Aus der Spezialdoku wird plötzlich ein Universalessay. Diesem könnte man nun vorwerfen, eine Mogelpackung zu sein, aber das allein sagt natürlich noch nichts über die Qualität des Films. Dass Trampe als Fragenstellerin offensichtlich ausgerechnet den Ex-ZDF-Talkguru Johannes B. Kerner als Vorbild auserkoren hat und die überladene Inszenierung ohne roten Faden herumschlingert, hingegen eine ganze Menge.

    Neben den erwarteten Liedern wie „Ein Mond ist aufgegangen“ erfährt Trampe auch von einigen skurril-amüsanten Wiegensongs, darunter auch eine sozialistische Variante von „Es kommt ein Vöglein geflogen“. Doch die Eingangsfrage dient ihr ja eh nur dazu, ins dahinterliegende Schicksal der Protagonisten vorzustoßen. So lässt sie das ehemalige Heimkind Santos von seinen Knasterfahrungen und seinem Wunsch, ein guter Vater für seinen Sohn zu sein, berichten. Apti Bisultanov, ehemaliger Vizepremier Tschetscheniens, der nun im Berliner Exil lebt, soll erzählen, wie er in seiner Heimat stundelang an einer Mauer stand, während ein Exekutionskommando immer wieder damit drohte, ihn zu erschießen. Und dann ist da noch Detlef Jablonski, Trampes Lieblingsprotagonist, der im Gefängnis geboren wurde, in der DDR bei einer Pflegefamilie aufwuchs, jahrzehntelang dem Alkohol verfallen war und nun in einem Kirchenchor singt.

    Man kann nachvollziehen, was die Macher an den einzelnen Geschichten interessiert hat, aber was diese Einzelschicksale dem Zuschauer in ihrer gemeinsamen Präsentation sagen sollen, bleibt – gelinde ausgedrückt – nebulös. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich beim besten Willen nicht ausmachen. Vielmehr wirkt der Film inhaltlich wie eine Aneinanderreihung von Human-Touch-Themen, also Nachrichtenbeiträgen mit einem menschelnd-rührseligen Einschlag, wie sie auch in „Stern TV“ und – noch schlimmer - „Kerner“ neben den üblichen Service-Beiträgen zur Genüge abgehandelt werden. Dazu passt auch Trampes gefühliger Interviewstil, der die Befragten des Öfteren soweit treibt, dass sie sprachlos und mit Tränen in den Augen aus dem Fenster starren, wobei die Kamera jedes Mal deutlich länger draufhält, als es nötig gewesen wäre. Doch Trampe ist nicht nur ein Hobby-Kerner, sie ist auch noch eine Hobby-Kallwass, die ähnlich wie die Psychologin aus dem Sat.1-Nachmittagsfernsehen küchenpsychologische Spielchen mit ihren Protagonisten treibt. So liest sie Santos und Detlef jeweils ein Wort vor und bittet die beiden, mit dem Wort zu antworten, das ihnen als erstes in den Sinn kommt. Sigmund Freud hätte daran vielleicht seine helle Freude gehabt, dem Zuschauer bleibt der Sinn dieser Aktion hingegen vollkommen verborgen.

    Warum „Wiegenlieder“ nach seiner Premiere auf der Berlinale 2010 trotzdem kein Schicksal als Teil einer langen Themennacht bei VOX droht, hängt mit der Inszenierung zusammen. Der Film reiht nicht einfach nur Interviews aneinander, sondern streut auch immer wieder kurze Berlin-Eindrücke dazwischen. Dass sich mit dem Aneinanderreihen naturalistischer Impressionen große Kinokunst schaffen lässt, hat die Regisseurin Angela Schanelec (Nachmittag, Orly) mit ihrer wunderbar atmosphärischen Auftaktepisode „Erster Tag“ zur Kurzfilmkompilation Deutschland 09 eindrucksvoll bewiesen. In „Wiegenlieder“ haben die eingestreuten Aufnahmen jedoch weder Rhythmus noch Atmosphäre und wirken zudem unnötig gestellt. Wenn immer wieder ein Mann in einem aufblasbaren Plastikwürfel durch die Szenerie kippt, macht das vielleicht rein optisch etwas her, ist aber kaum mehr als der ziellos-prätentiöse Versuch, den Film mit einer visuell-künstlerischen Komponente aufzuladen, die er einfach nicht hat.

    Fazit: „Wiegenlieder“ ist eine Human-Touch-Dokumentation, die sich in ein angestrengt wirkendes intellektuelles Gewandt zwängt und in ihrer inszenatorischen Beliebigkeit schnell langweilt.

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