„Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt." So wie es Forrest Gump auf den Punkt gebracht hat, verhält es sich auch mit den Filmen von Regie-Chamäleon Joe Carnahan. Der geschmeidige Kalifornier passt seinen Stil immer dem jeweiligen Projekt an. Mal inszeniert er den Realismus der Straße („Narc"), mal tobt er wie ein Berserker außer Rand und Band („Smokin' Aces") oder frönt dem sinnbefreiten Gigantismus („Das A-Team"). Für seinen Survival-Thriller „The Grey - Unter Wölfen" wählt Carnahan nun wieder einen ganz anderen Ansatz und unterläuft damit elegant den stromlinienförmigen Hollywood-Standard: Sein Psycho-Drama ist ein grimmiger Genrefilm mit philosophischem Anstrich - nüchtern und archaisch zugleich.
Der Biologe John Ottway (Liam Neeson) ist von einer Ölfirma, die in der eisigen Einöde des schneeüberfluteten Alaska eine große Raffinerie betreibt, angeheuert worden, um die Mitarbeiter vor wilden Tieren zu beschützen. Wenn es sein muss, erlegt der schweigsame Ottway angreifende Wölfe höchstpersönlich. Nach dem Tod seiner geliebten Frau (Anne Openshaw) ist sein Leben in einer Sackgasse angekommen, die Erinnerungen lassen Ottway nicht mehr los, treiben ihn in eine schwere Depression und kurz vor den Selbstmord. Nach einem Schichtwechsel besteigt er mit Kollegen ein Flugzeug, das die Öl-Crew heim nach Kanada bringen soll. Die Maschine gerät jedoch in einen Schneesturm und stürzt ab. Ottway wird bei dem Crash aus dem Flieger geschleudert, bleibt aber nahezu unverletzt. Insgesamt überleben acht Männer das Desaster, aber die Chance darauf, dass ein Suchtrupp die Havarierten in der Eiswüste der Tundra findet geht gegen null. Schlimmer wiegt aber zunächst die Gefahr durch ein Rudel Wölfe, in deren Jagdgebiet die Männer gelandet sind. Ottway schwingt sich zum Anführer auf und treibt die Gruppe weg vom schützenden Flugzeugwrack Richtung Süden - in der Hoffnung, irgendwann auf Zivilisation zu stoßen und den hungrigen Wölfen zu entkommen. Doch die lassen nicht locker...
Das karg-minimalistische Überlebensdrama „The Grey" ist der krasse Gegenentwurf zum „A-Team"-Film, den Regisseur Joe Carnahan zuvor drehte, und das ist nicht nur dem vergleichsweise moderaten Budget von 25 Millionen Dollar geschuldet. Hat er bei der TV-Serien-Adaption noch tonnenschwere Panzer an Fallschirmen aus Flugzeugen segeln lassen, verzichtet er bei „The Grey" auf solch hanebüchenen Bombast und schafft für seine überhöhte Vision des menschlichen Kampfs ums Überleben einen auf das Wesentliche reduzierten Kosmos mit eigenen Regeln. Darin sind die furchteinflößenden Wölfe, die uns Carnahan und sein Drehbuchautor Ian Mackenzie Jeffers (auf dessen Kurzgeschichte der Film basiert) präsentieren, die symbolische Verkörperung einer unausweichlichen überlebensgroßen Bedrohung. Ihr Porträt ist biologisch gesehen genauso wenig realistisch wie Steven Spielbergs weißer Hai, aber für Carnahans nihilistisch angehauchte Illustration der sprichwörtlichen Erkenntnis „Der Mensch ist des Menschen Wolf" sind sie ein treffender dramaturgischer Katalysator.
Gleich zu Beginn etabliert Carnahan einen düsteren Grundton, wenn Neesons Selbstmordkandidat Ottway zu einem fatalistisch-philosophischen Off-Kommentar ansetzt. Schnell offenbart sich hier eine bitter-zynische Sicht auf die menschliche Gesellschaft, wenn nicht auf die menschliche Natur. So wird das Personal der abgelegenen Bohrstation aus dem Abschaum der Menschheit gespeist, es regiert ganz archaisch das Recht des Stärkeren. Die Harte-Männer-Attitüde der Raffinerie-Mitarbeiter erweist sich später im direkten Duell mit den gnadenlosen Wölfen konsequenterweise als vollkommen nutzlos. Carnahan lässt diese Erkenntnis erst im Angesicht des Todes wie einen Hammerschlag auf die Figuren niederprallen – diese Szenen haben etwas von einer fürchterlichen, aber durchaus gerechten Rache der Natur für menschliche Anmaßung und Unfähigkeit.
Im Zentrum des Films thront der studierte Wissenschaftler und fühlt sich seinen Mitmenschen überlegen. Liam Neesons John Ottway strahlt Souveränität und Autorität aus, er ist der unumstrittene Mittelpunkt des Geschehens und ihm fällt nach dem Absturz zwangsläufig die Rolle des Anführers zu, alle anderen Figuren werden in erster Linie über ihre Beziehung zu ihm definiert. So stutzt Ottway nach bekanntem Genremuster rotzige Emporkömmlinge, Besserwisser und Feiglinge zurecht, während der Zusammenhalt der Gruppe, in der verschiedene konkurrierende Allianzen geschmiedet werden, zu wünschen übrig lässt. Dabei lauert hinter dem nächsten Baum schon wieder der Tod in Wolfsgestalt.
Die Attacken der Bestien inszeniert Carnahan sehr direkt, oft ganz nah dran mit der Kamera und gern auch im Dunkeln, um dem Zuschauer bewusst die Orientierung zu nehmen und den Überraschungseffekt auszukosten. Diesem Nachtmodus setzt der Regisseur immer wieder majestätische Landschaftspanoramen des tief verschneiten Alaska entgegen, was in einer berührenden Gänsehautszene mündet, in der sich ein verletztes Mitglied der Gruppe aufgeben will und bei einem phänomenalen Blick auf die betörend schöne Weite sterbend zurückgelassen wird. Diese kraftvolle Einstellung ist wunderschön und dennoch tief bedrückend – in diesem Moment bekommt der Befund von der (selbst-)zerstörerischen Art des Menschen einen Trauerrand und somit eine emotionale Erdung.
Liam Neeson verkörpert in „The Grey" nicht so sehr den zielstrebigen Berserker wie zuletzt in „Unknown Identity" und vor allem in „96 Hours". Vielmehr ist der Einsatz für Gerechtigkeit in eigener Sache hier einem nachhaltigen Fatalismus gewichen, der stellvertretend für den ganzen Film gilt. Die Figur des irischen Stars besitzt wieder einmal keine übermäßige Tiefe, was auch einige kitschige Rückblenden nicht ändern können, aber dennoch dominiert er den Film. Daneben wissen sich aber auch seine Nebenmänner darstellerisch durchaus zu behaupten. Dallas Roberts („Todeszug nach Yuma") als Henrick, Frank Grillo („Warrior") als Diaz und Dermot Mulroney („Die Hochzeit meines besten Freundes") als Talget erspielen sich Profil, obwohl ihre Figuren in der Anlage kaum mehr als Stereotypen sind.
Fazit: Joe Carnahans surreal-düsterer Überlebens-Thriller „The Grey" hebt sich vor allem in der Erzählhaltung wohltuend vom Hollywood-Standard ab. Der Regisseur spielt das existentialistische Mensch-gegen-Natur-Drama in prächtiger Winter-Kulisse konsequent durch und macht keine Gefangenen.
Kleiner Tipp: Unbedingt bis zum Ende des Abspanns sitzen bleiben. Danach folgt noch eine kurze Szene!