Eigentlich verschwindet Giulia ja gar nicht. Sie wird nur älter, der Fünfzigste steht bereits vor der Tür. Und bekanntlich geben runde Geburtstage vor allem in der zweiten Lebenshälfte reichlich Anlass, das Älterwerden mit seinen schönen und unschönen Seiten zu thematisieren, was Regisseur Christoph Schaub („Stille Liebe“) in „Giulias Verschwinden“ dann auch ausgiebig macht. Herausgekommen ist eine recht gemütliche und zahme, dabei sehr redselige Episoden-Komödie, in der verschiedene Handlungsstränge mal mehr, mal weniger glücklich ineinander verwoben werden. Getragen wird das Ganze hauptsächlich von den Darstellern, allen voran Corinna Harfouch und Bruno Ganz. Das Drehbuch des Schweizer Star-Autors Martin Suter (Romanvorlage zu Lila, Lila) wartet zwar mit einigen lakonischen und lustigen Dialogzeilen auf, wirkt in der Gesamtanlage allerdings hölzern und zerfahren.
„Giulias Verschwinden“ beginnt mit einer Szene im Bus, die das thematische Spielfeld des Films absteckt: Giulia (Corinna Harfouch, Whisky mit Wodka, This Is Love) beobachtet von ihrem Sitzplatz aus zwei junge Mädchen um die 18, die über Jungs reden und mit ihren Handys herumspielen. Eine ältere Dame setzt sich neben Giulia, wird von ihr aber zunächst übersehen, woraufhin sie versöhnlich feststellt: „Uns Ältere sieht man halt nicht mehr.“ Wie eine Weissagung tritt dies dann auch tatsächlich ein: Giulias Spiegelbild in der Fensterscheibe verschwindet vorübergehend und beim Bummel durch verschiedene Geschäfte wird sie nirgends wirklich wahrgenommen – bis der weltgewandte Geschäftsmann John (Bruno Ganz, Der Untergang) die attraktive Frau auf einen Drink einlädt... Derweil warten Giulias Freunde in einem Restaurant auf das Geburtstagskind und Debattieren über das Für und Wider des Alters. Die ältere Dame aus dem Bus feiert unterdessen im Altersheim den Geburtstag ihrer Freundin und die beiden jungen Mädels vom Anfang werden beim Ladendiebstahl erwischt…
Vier parallel erzählte Episoden rund um das Thema Alter und Älterwerden bietet Schaubs Film also, wobei die Begegnung zwischen Giulia und John das Epizentrum darstellt: Die Episode ist auf direkte Weise mit der um die wartenden Gäste gekoppelt und schlägt – allerdings sehr indirekt und notdürftig – die Brücke zu den anderen beiden Episoden, die eher im Hintergrund ablaufen. Vor allem für die Geschichte um die Mädchen besteht keinerlei Notwendigkeit (abgesehen davon, dass die beiden die junge Generation vertreten), weshalb sie eher stört. „Giulias Verschwinden“ leidet also an einem Problem, an dem sehr viele Filme mit episodischer Erzählstruktur leiden: Die einzelnen Handlungsstränge sind zu oberflächlich miteinander verknüpft. Andererseits wird es bei Episodenfilmen selten langweilig, da mit einer Dramaturgie der Erwartungen gearbeitet wird, die jeweils nur die jeweiligen Höhepunkte der Erzählstränge ins Bild rückt. Daran sowie an der Allgemeingültigkeit des Themas liegt es wohl, dass Schaubs Film in Locarno mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.
Inszenatorisch ist „Giulias Verschwinden“ eine Aneinanderreihung von Dialogen, denen sich die Regie völlig unterordnet. Schüsse und Gegenschüsse, Großaufnahmen und Blickwechsel zeigen die meist sitzenden Figuren beim Diskutieren über das Alter: Giulia und John sitzen an der Hotelbar, Giulias Gäste im Restaurant, die älteren Damen und Herren an einem Tisch im Altersheim, das junge Mädchen vom Anfang mit ihren Eltern auf der Polizeiwache. Sie alle sitzen und reden über ihr Alter: Die einen wollen schnell älter werden, die anderen haben sich mit dem hohen Alter arrangiert und wollen „gar nicht mehr tauschen“, und wieder andere wollen ihm um jeden Preis entfliehen – man kennt das ja.
In der Figurenzeichnung arbeitet „Giulias Verschwinden“ fast ausschließlich mit Klischeebildern, denn nur so lassen sich die recht zahlreichen Figuren schnell erfassen und einordnen. Da gibt es zum Beispiel die mit einem Schönheitschirurgen liierte Mittfünfzigerin, die sich Dekolleté und Gesicht straffen lässt (Sunnyi Melles, Unter Strom), den reifen Herren mit sportlich-jugendlicher Kleidung und goldenen Turnschuhen (Daniel Rohr) oder das schwule Pärchen, das sich gegenseitig mit Witzen über den körperlichen Verfallsprozess aufzieht (Stefan Kurt, Bis zum Ellenbogen; André Jung, Die Besucherin). Die Verwendung solcher Stereotypen funktioniert vor allem wegen der gut aufgelegten Darsteller-Truppe, die sich aus gestandenen Kino-, Fernseh- und Theater-Stars rekrutiert. Ohne die gelungene Besetzung, der man gerne zusieht, würde „Giulias Verschwinden“ wohl gar nicht funktionieren.
Im Wesentlichen besteht Schaubs Film also aus Dialogen und Schauspieler-Leistungen. Das Drehbuch von Martin Suter interessiert sich nicht fürs filmische Erzählen und auch die Regie von Christoph Schaub begnügt sich mit dem bloßen Abfilmen der Tischrunden, von der zumindest teilweise mit Bildern erzählten Auftaktszene einmal abgesehen. Der Umstand, dass viele der Dialogzeilen in der Tat komisch sind, kann die langweilige Inszenierung letztlich nicht über die komplette Spielzeit verdecken. Insgesamt geht „Giulias Verschwinden“ daher als gemächlicher und erstaunlich harmloser Ensemble-Film durch, den man sich zwar anschauen kann, der aber gewiss kein großes Kino ist. Im Gegenteil beschleicht einen das Gefühl, dass der Stoff als Hörbuch, Theaterstück oder Kolumne besser aufgehoben wäre: Wenn man sich für die spezifischen Mittel des Kinos nicht interessiert, warum dann einen Film drehen?