Es war einmal in Nueva York
Von Jochen WernerUsnavi de la Vega (Anthony Ramos) verdankt seinen ungewöhnlichen Namen einer geradezu märchenhaften Begebenheit. Als er zum ersten Mal nach Amerika kam, so erzählt Usnavi den gebannt lauschenden Kindern vor seiner kleinen Strandbar, habe sein Vater ein Schiff am Horizont erblickt und sich geschworen, sein Kind solle den Namen dieses Schiffes tragen. Als das Schiff dann immer näherkam, wurde schließlich auch die Aufschrift lesbar: „U.S. Navy“. So kommt es also, dass im „Nueva York“ der 2020er Jahre ein junger Mann dominikanischer Abstammung lebt, der den Traum seines Vaters von der Neuen Welt bereits im Namen und die Sehnsucht nach dem vermeintlichen verlorenen Paradies der Dominikanischen Republik im Herzen trägt.
Hier betreibt er eine Bodega, also eines jener für New York so typischen kleinen Lebensmittelgeschäfte, in denen man alles bekommt, was man tagein, tagaus so braucht. In denen sich aber auch die Nachbarschaft trifft und die Idee eines wirklich gemeinschaftlichen Zusammenlebens, einer Community, erst mit Leben gefüllt wird. Usnavis Bodega liegt in Washington Heights, einem von verschiedenen Latino-Communities geprägten Stadtviertel im nördlichen Manhattan, dem der Autor und Komponist Lin-Manuel Miranda mit seinem 2005 (also zehn Jahre vor seinem Broadway-Megahit „Hamilton“) uraufgeführten und nun von Regisseur Jon M. Chu („Crazy Rich“) fürs Kino verfilmten Musical „In The Heights“ ein Denkmal setzt.
Nun errichtet man Denkmäler ja zumeist für Personen oder Dinge, die bereits verstorben oder zumindest im Verschwinden begriffen sind – und auch das Washington Heights des Films ist, so märchenhaft es auch porträtiert sein mag, ganz unmittelbar bedroht durch die Gentrifizierung, die es, so heißt es in einem der Songs, bald nur noch Reichen und Hipstern erlaube, dort zu leben. Andererseits aber auch von den Träumen der Einwohner*innen, die sie in ganz verschiedene Richtungen aus dem Viertel fortziehen.
Summer in the City
Nina (Leslie Grace) trägt eine schwere Bürde als Wunderkind und Hoffnungsträgerin des gesamten Viertels und insbesondere ihres Vaters Kevin (Jimmy Smits), der das örtliche Taxiunternehmen leitet. Sie hat es zwar nach Princeton geschafft, fühlt sich dort als einzige Latino-Studentin unter wohlhabenden Weißen aber einsam und nicht akzeptiert. Während Kevin alles tut, um die teuren Studiengebühren aufzubringen und dafür sogar seine Firma und damit sein Lebenswerk verkaufen würde, plagt Nina selbst nicht nur die Ignoranz der elitären Akademie, sondern auch das schlechte Gewissen einer Aufsteigerin, die die eigenen Wurzeln hinter sich lässt.
Vanessa (Melissa Barrera) hingegen macht den Kundinnen von Danielas Schönheitssalon die Nägel und träumt von einer Zukunft als Modedesignerin – irgendwo, nur nicht in Washington Heights. Schon lange schwärmt Usnavi aus der Ferne für sie, und nur in ihrer Gegenwart scheint der eloquente Junge die Worte zu verlieren. Zusammengehalten wird die Community von Abuela Claudia (Olga Merediz), einer großmütterlichen Matriarchin, die selbst kinderlos blieb und deshalb, wie Usnavi erzählt, alle Kinder des Viertels adoptierte…
All diese Erzählstränge um die „suenitos“ („Träume“) der Bewohner*innen von Washington Heights gehen in Usnavis Bodega ein und aus, wie man es sonst nur aus Harvey Keitels Tabakladen im Independent-Klassiker „Smoke“ und dessen Sequel „Blue In The Face” kennt. Abends kommen sie zusammen um den Esstisch von Abuela Claudia und verdichten sich, wie damals in Spike Lees „Do The Right Thing“ während einer Hitzewelle und einem Stromausfall. Dabei werden sie von Komponist Lin-Manuel Miranda, der am Broadway noch selbst den Usnavi spielte, und Regisseur Jon M. Chu immer wieder aufs Schönste zum Tanzen gebracht! Denn „In The Heights” ist ein Musical – und zwar ein, das ebenso frisch wie klassisch wirkt.
Klassisch insofern, als „In The Heights“ die Metaspielereien und betonten Brüche eines „La La Land“ nicht nötig hat, sondern sich voller Selbstbewusstsein in die Traditionslinie des spektakulären amerikanischen Kinomusicals stellt – in der vollen Überzeugung, dass diese Form weder antiquiert wirkt noch ironisch gebrochen werden muss, sondern dass es auch heute noch möglich ist, sie auf jedes noch so kontemporäre Thema hin zu aktualisieren. Und dass die Welt, in die „In The Heights” uns einlädt, eine ganz und gar gegenwärtige ist, daran lässt der Film wenig Zweifel. „Sie wollen alle Dreamers ausweisen“, heißt es einmal in Anspielung auf eine gegen Kinder illegal Eingewanderter gerichtete politische Initiative von Donald Trump. Und die Abendessen bei Abuela Claudia kommen nicht ohne den per Off-Dialog eingestreuten Hinweis aus, es seien auch Veganer*innen in der gemütlichen Runde.
Die Musical-Nummer im Freibad ist eine Hommage an den legendären Hollywood-Regisseur und Choreografen Busby Berkeley.
Manche dieser Einsprengsel kommen ein wenig plump daher und machen den Versuch etwas zu transparent, wirklich nichts unausgesprochen zu lassen, was noch irgendwer in irgendeiner hippen liberalen Bubble vermissen könnte. Aber sie stören auch nicht sehr und letztlich bilden sie das Leben und die Diskurse in ebendiesen Bubbles ja vermutlich auch korrekt ab. Ein wenig mit den Augen rollen darf man also durchaus, wenn einem die Diversität hier und da etwas zu sehr mit dem Holzhammer eingetrichtert erscheint. Aber allzu lange sollte man sich daran nicht aufhalten, sondern lieber ins Schwärmen geraten – nämlich darüber, was für ein schöner, mitreißender, lebenspraller Film „In The Heights“ doch geworden ist.
Gerade weil man ihn durchaus gegen Kritiker*innen in Schutz nehmen will, die ihm bei seinem Zelebrieren von Nachbarschaft und Community Beschönigung vorwerfen. Sicherlich hält Washington Heights am Ende auch als utopischer Fluchtpunkt aller Erzählstrenge von „In The Heights“ her, aber zwischendrin werden diese auch durchaus komplex aufgefächert, da ist das Viertel dann zugleich sicherer Halt, zurückhaltender Ballast und gefühltes Gefängnis. Und sowieso: „There’s no place like home!” – das erkannte schon Dorothy auf ihrer wunderbaren Reise durchs Zauberland Oz und so überrascht es am Ende von „In The Heights“ auch nicht wirklich, wenn langgehegte Reisepläne in verklärte Kindheitsländer ad acta gelegt werden, um die wahre Heimat hinter der eigenen Ladentür zu finden.
Auch die Musicalnummern, die sich oft aus betont beiläufig in Raps übergehender Alltagssprache herleiten, sich aber jederzeit auch die Freiheit herausnehmen, in eine Busby-Berkeley-Hommage in einem Freibad zu münden, haben zu diesem Zeitpunkt längst den Realismus und andere Schwerkräfte hinter sich gelassen. In diesen Momenten ist „In The Heights“ Kino in seiner pursten Form – ansteckend optimistisch und lebensfroh.
Fazit: Ein wirklich wunderbares Kinomusical, dessen Drang zur Diversität manchmal ein bisschen allzu aufdringlich daherkommt. Dem Vergnügen tut das aber gar keinen Abbruch: „In The Heights“ ist ein bezauberndes, zweieinhalbstündiges Filmspektakel, das man unbedingt auf der großen Leinwand sehen sollte.