Für sein archaisch-wuchtiges Öl-Drama „There Will Be Blood" trieb das erwachsen gewordene Regie-Wunderkind Paul Thomas Anderson den wohl derzeit größten Schauspiel-Exzentriker Daniel Day-Lewis („Lincoln") zu einem der extrovertiertesten Geniestreiche des darstellenden Gewerbes – mehr genüsslich zelebriertes Overacting als in der schon jetzt legendären „I am a sinner"-Szene oder bei dem finalen „I‘m finished"-Tusch geht nicht. Diese oscargekrönte Tour de Force lässt sich von einem einzelnen Schauspieler kaum überbieten, daher findet Anderson für seinen folgenden Film, das ambitionierte Drama „The Master", eine ganz pragmatische Lösung: Mit Joaquin Phoenix und seinem Lieblingsschauspieler Philip Seymour Hoffman hat der Regisseur gleich zwei anerkannte Overacting-Hochkaräter an den Start gebracht, die sich ebenfalls die Seelen aus dem Leib spielen. Aber ihre Meisterleistungen, die betörende 70-mm-Fotografie und die handwerkliche Perfektion können nicht ganz über die strukturellen und inhaltlichen Schwächen des Films hinwegtäuschen. Andersons „The Master" ist kein Meisterwerk wie sein Vorgänger, aber immer noch verdammt starkes Kino.
Der Fotograf Freddie Quell (Joaquin Phoenix) kehrt als Soldat emotional traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurück und versucht im aufschwingenden Amerika der Nachkriegszeit erfolglos, sich wieder ins Berufsleben einzufinden. Während ihn in seinem Job immer wieder sein aufbrausendes Temperament ausbremst, gibt sich der Griesgram dauerhaft dem Alkohol und wahllosen Affären hin. In San Francisco stolpert er 1950 eines Nachts betrunken auf die Yacht von Lancaster Dott (Philip Seymour Hoffman), der sich selbst als Autor, Arzt, Wissenschaftler und Philosoph bezeichnet und mit seiner Frau Peggy (Amy Adams) sowie einigen Gefolgsleuten nach New York schippert. Dott führt die Glaubensgemeinschaft „The Cause" und behauptet, seelische und körperliche Krankheiten unter Hypnose heilen zu können. Freddie ist angezogen vom Charisma Dotts und schließt sich der verschworenen Gemeinschaft an. Der Guru findet seinerseits Gefallen an dem Neuling, der bald zu seinem Terrier wird und jeden externen Kritiker der Gruppe verbissen attackiert - zur Not mit Gewalt. Vom Alkohol kommt der mürrische Freddie allerdings nicht los, was ihn zu einer tickenden Zeitbombe macht, die überall und jederzeit hochgehen kann. Unterdessen schreibt Dott an seinem zweiten Buch, das „The Cause" noch mehr Zulauf bringen soll.
Paul Thomas Anderson ist ein Regie-Virtuose mit ureigener Handschrift, die sein Werk fast wie ein Brandzeichen oder ein Gütesiegel kennzeichnet. Wenn der Wenigfilmer sich auf ein Projekt einlässt, dann kann man in jedem Fall etwas Besonderes erwarten. Er hat sich über die Jahre mit Meisterwerken wie „Boogie Nights" (1997), „Magnolia" (1999) und „There Will Be Blood" (2007) einen außergewöhnlichen Ruf erarbeitet und spielt im amerikanischen Gegenwartskino in einer Liga mit Giganten wie Christopher Nolan („Dark Knight"-Trilogie) oder David Fincher („Sieben", „Verblendung"). Vielleicht hat dieser Status dem Kalifornier den klaren Blick auf sein Publikum verstellt. Denn der Trend, der schon mit dem prallen Wunderwerk „There Will Be Blood" seinen vorläufigen Höhepunkt fand, wird mit „The Master" noch einmal gesteigert: Anderson ignoriert die Ansprüche und Wünsche einer breiteren Zuschauerschaft konsequent, was hier nicht folgenlos bleibt. Fügten sich die formalen Experimente und Abschweifungen des Öl-Epos noch in ein schlüssiges Porträt eines Exzentrikers und seiner Epoche, gibt es in „The Master" keinen roten Faden, der die teilweise brillanten Einzelszenen zusammenhalten würde. So ist die Handlung häufig alles andere als packend, zumal auch die Figuren mit der Ausnahme des charismatischen Sektenführers Dott seltsam undurchlässig und wenig fassbar bleiben.
Die fehlende Klarheit im erzählerischen Zugriff ist umso bedauerlicher, als dass die Darbietungen von Joaquin Phoenix, Philip Seymour Hoffman und Amy Adams allesamt von reinstem Oscar-Kaliber sind. Sie verleihen ihren Figuren eine unglaubliche Präsenz, aber deren (Un-)Tiefen kommen in Andersons stark zerfaserter Erzählung nicht immer zur Entfaltung. So ist das gespannte Vater-Sohn-Verhältnis von Lancaster Dott zu seinem krawalligen Jünger Freddie Quell im Prinzip das Zentrum des Films, doch wie sie hier ausgebreitet wird, gibt diese Beziehung nicht ausreichend Stoff für 137 Minuten episches Kino her, zumal die Figur des Freddie sehr statisch angelegt ist und kaum Entwicklung durchmacht. Letztlich ist die Rolle von Dotts Ehefrau Peggy wesentlich interessanter. Sie steht immer am Rande, ist aber in Wahrheit der spirituelle Kopf der Organisation. Es sind ihre Gedanken, die ihr Mann zu Papier bringt und als brillanter Redner dem Volk unterjubelt - eine faszinierende Konstellation, die sich in den eindringlich intensiven Szenen zwischen Hoffman und Adams als wahres Herzstück von „The Master" erweist.
Im Gegensatz zu ihren beiden großkalibrigen Mitstreitern agiert Amy Adams („The Fighter", „Die Muppets") durchgehend zurückhaltend, erzielt dabei aber eine mindestens ebenso starke Wirkung wie die Kollegen. Oscar-Preisträger Philip Seymour Hoffman („Capote") wiederum platzt in einer Paraderolle als intellektueller Bauernfänger fast vor Charisma: Er schwingt epische Reden, schreit und wütet, er ist boshaft, verführerisch, charmant und doch verletzlich. Was Joaquin Phoenix („Gladiator", „Walk The Line") hingegen in „The Master" macht, ist eines der sonderbarsten schauspielerischen Kabinettstückchen seit langem. Er schafft ein regelrechtes Monstrum, eine soziopathische, anti-psychologische Kunstfigur, die in ihrer gebückten Körperhaltung einer hyperaktiven Wrack-Ausgabe des ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon gleicht. Dieser Freddie Quell ist ein Kotzbrocken sondergleichen und ein permanenter Unruheherd, er trinkt in einer Tour, lässt sich von Winzigkeiten aus der Fassung bringen und pöbelt dann lauthals drauflos. Seine Labilität ist paradoxerweise eine unerschütterliche Konstante – ihre Ursache wird pauschal als Kriegstrauma erklärt, eine Besserung scheint ausgeschlossen. Gewissermaßen agiert Phoenix nämlich im luftleeren Raum und Freddie irrlichtert wie ein geschichtsloser Fremdkörper durch die Erzählung, in der er keinen Schritt vorwärts oder zurück macht.
Immer wieder wurde Andersons Film im Vorfeld als Scientology-Drama angekündigt, aber der fiktive „The Master" ist keineswegs eine Abrechnung mit der berüchtigten Organisation, auch wenn die Figur des Lancaster Dott lose an die Biografie von Scientology-Gründer L. Ron Hubbard angelehnt ist. Es geht dem Regisseur auch gar nicht darum, Sekten und sektenähnliche Gemeinschaften plakativ zu ächten oder skandalöse Geheimnisse ans Tageslicht zu bringen. Die Gefährlichkeit, die Scientology zugeschrieben wird, besitzt „The Cause" nicht, schlimmstenfalls sind deren Vordenker und Anhänger Spinner, die mit ihrer Lehre auf dem Holzweg sind. Der exquisit ausgestattete und von Johnny Greenwoods fiebriger Musik angetriebene „The Master" ist vielmehr in erster Linie das skizzenhafte Porträt dreier auf unterschiedliche Art komplizierter Menschen und einer Zeit (nach dem Zweiten Weltkrieg), die in besonderem Maße von der Suche nach Orientierung geprägt war – und genau die bieten die Dotts. Sinnstiftung und Scharlatanerie erscheinen hier als zwei Seiten derselben Medaille – das ist die passend ambivalente Essenz eines faszinierenden, wenn auch nicht rundum gelungenen Films.
Fazit: Paul Thomas Andersons „The Master" ist ein formal perfektes Drama, das mit überwältigenden Schauspielleistungen und einer brillanten Nostalgie-Fotografie im raren 70mm-Format glänzt. Erzählerisch ist der Film allerdings nicht ganz auf demselben Niveau, dafür ist die Geschichte zu sperrig und distanziert umgesetzt.