„Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, sollte aber nichts von seinem eigenen Leben hineintun“, zürnt der Maler Basil Hallward gegenüber seinem Freund Lord Henry Wotton in Oscar Wildes Literaturklassiker „Das Bildnis des Dorian Gray“. Die Chinesin Xiaolu Guo beachtet diese Empfehlung nicht. Obwohl ihr Drama „She, A Chinese“ nicht explizit autobiographisch ist, wie es noch ihr Erfolgsroman „Stadt der Steine“ war, liegen die Parallelen zwischen dem Leben ihrer Protagonistin und ihrem eigenen auf der Hand. Die Regisseurin hat viel von ihrer eigenen Biographie in ihr Kunstwerk eingebracht und entgegen der Ansicht von Hallward schadet es diesem nicht. Die Verbindung zum eigenen Werdegang beschert „She, A Chinese“ vielmehr die nötige Authentizität, die es braucht, damit der Zuschauer bei der in Episoden erzählten Leidensgeschichte trotz ihrer Sperrigkeit emotional nicht außen vor bleibt.
Die junge Chinesin Li Mei (Lu Huang) wächst in einem kleinen Dorf am Rande einer Industrielandschaft auf. Die Jugend ist trostlos und sie träumt vom Ausbruch aus ihrem bisherigen Leben. Ein paar kleinere Flirts mit den Jungs im Ort verschaffen ihr wenigstens ein bisschen Ablenkung und bringen ihr zudem einen iPod ein, hinter dem sie sich fortan versteckt. Als sie jedoch vergewaltigt wird, packt sie endgültig ihre sieben Sachen, um sich in die Millionenmetropole Chongqing durchzuschlagen. Dort landet sie erst in einer Fabrik und dann in einem Friseursalon, dessen Name „Love Salon“ schon andeutet, dass die Mädchen hier mehr als nur Haareschneiden anbieten. Li Mei wird die Freundin des Mafia-Schlägers Spikey (Wie Yi Bo). Als der von seiner Arbeit blutüberströmt nach Hause kommt und tot zusammenbricht, nimmt sie sein Geld und erfüllt sich ihren größten Traum: London. Doch weder in der platonischen Ehe mit dem netten Witwer Mr. Hunt (Geoffrey Hutchings) noch in der körperlichen Beziehung mit dem indischen Imbissbudenbesitzer Rachid (Chris Ryman) wird sie wirklich glücklich…
Obwohl Xiaolu Guo erst Mitte dreißig ist, kann das chinesische Multitalent bereits auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken. Die wie ihre Heldin Li Mei in einem kleinen chinesischen Dorf aufgewachsene und später nach London emigrierte Xiaolu Gu hat sich vor allem als Autorin einen Namen gemacht. Bereits mit 14 Jahren wurden die ersten Gedichte und Geschichten von ihr in überregionalen chinesischen Zeitungen und schließlich in Buchform veröffentlicht. Mit ihrem mehrfach preisgekrönten, autobiographischen Roman „Stadt der Steine“ gelang ihr auch im Westen der Durchbruch. Seitdem folgten weitere viel beachtete Werke. Ende der Neunziger wurden während ihres Studiums an der Beijing Film Academy auch ihre ersten Drehbücher verfilmt. Im Rahmen ihres anschließenden Studiums an der National Film And Television School in London wagte sie 2003 dann den längst überfälligen, aufgrund der chinesischen Zensur aber bislang unmöglichen Schritt hinter die Kamera und drehte den Kurzfilm „Far And Near“. Seitdem folgen Schlag auf Schlag Dokumentar- und Spielfilme, so dass es den Anschein hat, die Regisseurin käme nie zur Ruhe. So entstand etwa parallel zur Produktion von „She, A Chinese“ der bei den Filmfestspielen von Venedig viel beachtete Dokumentarfilm „Once Upon A Time Proletarian“. Trotzdem ist „She, A Chinese“ mit dem Gewinn des Goldenen Leoparden in Locarno und des Drehbuchpreises in Hamburg der bislang größte Erfolg von Xiaolu Guo als Filmemacherin.
Xiaolu Guo verweigert dem Zuschauer einen leichten Zugang sowohl zur Geschichte als auch zu ihrer Protagonistin. „She, A Chinese“ ist ein episodenfilmartiges Essay über eine junge Frau, die der Zuschauer zwar immer wieder bewundert, die aber dennoch nicht als Identifikationsfigur taugt. Zu eigensinnig und rücksichtslos geht sie einen Weg, und das scheinbar auch noch, ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben. Mit jedem Aufstieg, den sie erreicht, ist sie genauso schnell wieder unzufrieden. Emotionale Ausbrüche sind selten, meist nimmt sie Schicksalsschläge fast teilnahmslos hin oder bedenkt nüchtern die Vorteile, die sich für sie daraus ergeben. Entsprechend starrt Hauptdarstellerin Lu Huang meist mit ausdruckslosem Gesicht ins Leere, während Li Mei mit ihren großen Kopfhörern der irdischen Welt vollständig entflohen zu sein scheint.
Mit der Inszenierung unterstreicht Xiaolu Guo diesen Eindruck noch. „She, A Chinese“ ist unterteilt in kleine Episoden, die durch Texttafeln eingeleitet werden, deren Botschaften zwar einfach und banal erscheinen, im Zusammenspiel mit den nachfolgenden Szenen aber meist eine gewisse Ironie entwickeln. Die Regisseurin spielt bei diesen Einblendungen geschickt mit den Erwartungen des Zuschauers, der sich im Fortlauf immer öfter fragt, was sich denn nun schon wieder hinter dieser Kapitelüberschrift verbergen mag. Die lapidar betitelte Episode „Mr. Hunt has a bad back“ handelt etwa davon, wie Li Mei in einem Massagesalon den alten Witwer Mr. Hunt kennen lernt, ihn kurze Zeit später in einer Kneipe wiedertrifft, ihn in ihrer gewohnt zweckmäßigen Art fragt „Do you have a bank account?“ und dann mit ihm vor dem Standesbeamten steht. In der elliptischen Erzählweise des Films vergehen zwischen Kennenlernen und Hochzeit nur wenige Minuten. Dieser Stil verstärkt zusammen mit der immerzu ziellos anmutenden Handlung den episodischen Charakter. Das erinnert an einige der sperrigeren Werke von Jean-Luc Godard, der – wenig überraschend – von der Regisseurin im Interview als Vorbild genannt wird.
Mit einem punkigen Kanto-Pop-Soundtrack wirkt „She, A Chinese“ bisweilen wie eine Aneinanderreihung von Musikvideos, die sich nie ganz zusammenfügen wollen. Schon der Einstieg mit harten Gitarrenriffs gibt die Richtung vor. Der Soundtrack des bekannten britischen Produzenten und Komponisten John Parish, der sich vor allem aufgrund seiner Zusammenarbeit mit PJ Harvey einen Namen machte, liefert stets ein irritierendes Kontra zu den Bildern. Neben Parish konnte sich die Regisseurin für die Post-Produktion noch einen weiteren großen Namen sichern. Andrew Bird, mehrfach ausgezeichneter Stamm-Cutter von Fatih Akin (Gegen die Wand, Auf der anderen Seite, Soul Kitchen), setzt immer wieder sehr harte Schnitte, die die Abruptheit der Episodenwechsel weiter verstärken. Über ihren Cutter Bird knüpfte Xiaolu Guo übrigens auch Kontakte zu Fatih Akin, der nun ihren nächsten Spielfilm, die Verfilmung ihres eigenen Romans „Ein Ufo, dachte Sie“, produzieren wird.
Fazit: „She, A Chinese“ ist kein einfaches, aber ein sehenswertes Drama. Obwohl der Zugang nicht leicht fällt und die Protagonistin sich nicht zur Identifikation eignet, fesselt ihr Schicksal mit dem Fortlauf der Handlung immer mehr. Auch wenn Xiaolu Guos Film inszenatorisch – sicherlich gewollt – nicht immer eine runde Sache ist, sollte man die chinesische Regiehoffnung auch zukünftig unbedingt im Auge behalten.