2011 eröffnete Woody Allen die Filmfestspiele von Cannes mit seiner Paris-Hommage „Midnight in Paris", die wunderbar zum Festival und dessen abgehobener Glamour-Atmosphäre passte. Einen Schritt weiter geht Filmemacher Jacques Audiard („Ein Prophet", „Der wilde Schlag meines Herzens") – der Pariser siedelt die Handlung seiner erschütternden Charakterstudie „Der Geschmack von Rost und Knochen" größtenteils in Cannes selbst an. Aber nicht nur die zufällige Kollision von Kunst und Abspielort prädestinieren Audiards hartes Drama für den Wettbewerb des renommierten Festivals, denn „Der Geschmack von Rost und Knochen" ist herausragend gespielt und fotografiert und von Audiard gewohnt ruppig-sensibl inszeniert.
Der Kampfsportler und Gelegenheitsarbeiter Ali (Matthias Schoenaerts) flüchtet aus dem Norden Frankreichs vor seinen Problemen und landet gemeinsam mit seinem fünfjährigen Sohn Sam (Armand Verdune) bei seiner Schwester Anna (Corinne Masiero) in Cannes an der Côte d‘Azur. Er übernimmt einen Job als Türsteher in einer Discothek, wo er auf die attraktive Stéphanie (Marion Cotillard) trifft, die bei einem Handgemenge verletzt wird. Ali fährt die verstörte Frau nach Hause, nicht ahnend, dass die Killerwal-Trainerin kurze Zeit später bei einem tragischen Arbeitsunfall mit den Orcas beide Unterschenkel verlieren wird. Bald lässt er sich von seinem Kollegen Martial (Bouli Lanners) für Untergrundkämpfe anheuern. Dort gibt es eine Menge Geld zu verdienen und Prügel einzustecken, doch der einfach gestrickte und pragmatische Ali hat Spaß dabei. Als Stéphanie, die nach ihrem Unglück unter Depressionen leidet, Kontakt zu Ali aufnimmt, entwickelt sich eine seltsame Freundschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren. Stéphanie findet nach und nach ins Leben zurück, doch ihre spezielle Beziehung zu ihrem ziemlich besten Freund Ali birgt reichlich Konfliktstoff.
Wenn Jacques Audiard filmt, geht es radikal zur Sache. Insofern ist auch der wuchtige „Der Geschmack von Rost und Knochen" ein typisches Werk des Regisseurs. Audiard variiert einmal mehr sein Lieblingsthema und erzählt von der mit einem Hang zur Selbstzerstörung gepaarten Suche nach sich selbst und nach einer Balance im Leben. Zur Kompromisslosigkeit seiner Figuren passt die filmische Unbedingtheit, mit der Audiard seine Dramen umsetzt: Auch er will gewissermaßen mit dem Kopf durch die Wand. Zu dieser rauen Seite gesellen sich manchmal geradezu poetische Momente, besonders wenn Audiards Kameramann Stéphane Fontaine („72 Stunden - The Next Three Days") sein glänzendes Auge für perfekte Lichtsetzung einbringt oder wenn Alexandre Desplat („Moonrise Kingdom", „Der Ghostwriter") mit seiner Filmmusik atmosphärische Wirkungstreffer setzt. Dabei bleibt die Handlung stets unvorhersehbar genug, um spannend zu bleiben, zugleich schlagen Audiard und sein Co-Autor Thomas Bidegain aber keine allzu wilden inhaltlichen Haken, sondern konzentrieren sich auf die feine Charakterstudie.
Dabei ist Matthias Schoenaerts' Ali noch besser und präziser gezeichnet als Marion Cotillards Stéphanie. Eine weniger versierte Schauspielerin wäre möglicherweise gescheitert, aber die Oscarpreisträgerin (für „La Vie En Rose") lässt uns die schwer greifbare Zerrissenheit ihrer Figur spüren und verleiht ihr Tiefe. Aber für die große Show ist Matthias Schoenaerts zuständig. Der Belgier, der bereits im ähnlich situierten Rinderdopingmafia-Familiendrama „Bullhead" glänzte, ist das Herz des Films. Sein Ali versucht sich mit einer fast schon penetranten Gleichgültigkeit durchs Leben zu schlagen. Ohne es wirklich zu beabsichtigen, verletzt er dadurch sein Umfeld, er ist ein mieser Vater für seinen orientierungslosen Sohn und auch für Stéphanie nur bedingt ein guter Weggefährte, dem allzu oft das Einfühlungsvermögen fehlt. Sein Körper und sein Geist agieren völlig getrennt voneinander, aber Ähnliches gilt auch für Stéphanie und so eint die beiden das verzweifelten Bemühen diese einander widerstrebenden Impulse in Einklang zu bringen. Neben diesem Duo trumpft auch der charismatische Bouli Lanners („Nichts zu verzollen") als Alis Kollege und Promoter auf. Er ist der auffälligste Akteur aus einer tollen Riege von Nebendarstellern.
Die hervorragenden Schauspielleistungen und Audiards handwerkliches Geschick überspielen ein paar Klischees, die vor allem Stéphanies Charakter und ihre Beziehung zu Ali betreffen. Aber immer wenn ihm die Zügel aus den Händen zu gleiten drohen, setzt Audiard erzählerische Ausrufezeichen und versetzt uns fiese emotionale Schläge in die Magengrube. Und er lässt seinen Film in einem markerschütternden Finale münden, das niemanden ungerührt lassen kann. An solchen Stellen ist „Der Geschmack von Rost und Knochen" so intensiv wie es das Kino nur im besten Fall sein kann. Einige Szenenfolgen sind von so schmerzhafter und niederschmetternder Zwangsläufigkeit, dass man den Blick abwenden möchte, aber die trotz allem immer lebendige Hoffnung auf Erlösung lässt uns mit bangem Herzen weiterschauen.
Fazit: Jacques Audiards sensibel-hartes Drama „Der Geschmack von Rost und Knochen" ist Hochdruckkino par excellence. Seine Ballade vom Türsteher und dem Orca-Mädchen besitzt enorme Durchschlagskraft - und am Ende entwickelt sich das klasse Charakterporträt zu einer Kino-Erfahrung von seltener Intensität.