Gott vergibt, das Publikum in Cannes nicht. Passend zum Titel des Films, wurde Nicolas Winding Refns neues Werk „Only God Forgives“ bei den Filmfestspielen in Cannes, von der Schar der Kritiker, gnadenlos ausgebuht. Dabei wurde sein neuestes Werk von vielen am meisten herbeigesehnt, war es doch seine triumphale Rückkehr nach dem Gewinn des Regiepreises für „Drive“, zwei Jahre zuvor. Doch was auch immer sich die Kritiker von „Only God Forgives“ erwartet hatten, sie konnten wohl nur enttäuscht werden. Denn ein „Drive 2“ ist Refns erneute Zusammenkunft mit Ryan Gosling nicht. Ganz im Gegenteil: Gegenüber dem für das Publikum relativ leicht zugängliche Meisterwerk „Drive“, bei dem Refns eigener Stil soweit reduziert war, das der Film auch einer breiteren Masse gefiel, gibt es hier wieder einen hundertprozentigen Refn. Mit „Drive“ neu gewonnene Fans wird er dadurch teilweise vergraulen, genauso wie er sich selbst sicherlich die ein oder andere Tür, die ihm nach Drive offen stand, wieder zuschlägt. Doch Refn bleibt sich immerhin treu. Er lässt sich nicht verbiegen, sondern dreht den Film den er drehen wollte, für gerade einmal 4 Millionen Dollar in der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Herausgekommen ist ein grandioses Kunstwerk. Ein hypnotischer Albtraum in einer verkommenen und von Gewalt regierten Welt aus Neon-Farben und einer der außergewöhnlichsten und besten Filme des Jahres.
Man sollte nicht den Fehler machen und im März, Filme zum Besten oder Außergewöhnlichsten des Jahres küren. Diesen Fehler habe ich jedoch begangen, als ich Harmonie Korines irrer Drogentrip „Spring Breakers“ als außergewöhnlichster Film des Jahres bezeichnete. Doch Nicolas Winding Refn toppt diesen noch einmal. Das Erzähltempo ist sehr langsam, so dass sich die 90 Minuten deutlich länger anfühlen als sie es eigentlich sind und trotzdem wird einem nie langweilig. Denn nach anfänglicher Gewöhnungsphase an Refns Stilwillen und Erzähltempo wird man förmlich in den Kinosessel gepresst und rutscht in diesem im Laufe des Films immer weiter nach unten, denn „Only God Forgives“ ist ein knallharter Schocker. Wie die FSK den Film bei der zweiten Sichtung ab 16 freigeben konnte ist mir ein Rätsel. Explizite Folterszenen, abgehackte Hände, Leichenschändung und aufgeschlitzte Oberkörper. Nach langsamem Start mutet Refn dem Zuschauer immer härtere Szenen zu. Refn selbst lieferte dafür die beste Erklärung ab die er geben konnte, als er sich in einem Interview als „Pornograf für Gewalt“ bezeichnete. Und das stellt er hier eindrucksvoll unter Beweis, jedoch ohne dass der Film gewaltverherrlichend wirkt. Das liegt vor allem an der abgrundtief schlechten Welt die der Film zeigt. Ob Billy darin den Wunsch äußert eine 14-jährige zu fi**** oder ob seine Mutter nur ein „Ich bin sicher er hatte seine Gründe“, auf die Vergewaltigung und Ermordung einer 16-jährigen Prostituierten durch Billy, übrig hat. In dieser Welt gibt es nichts Gutes und folglich gibt es auch keine Sympathieträger und keinen Bösewicht, da schlichtweg jeder mit völliger Gefühlskälte und abstoßeneden Taten zu Werke geht. Ob der unangenehmen Themen, der eisigen Gefühlskälte oder der extremen Brutalität, „Only God Forgives“ ist auf jeder Ebene gänzlich anders, und so ist die Spaltung der Zuschauer in zwei Lager, gut oder schlecht, auch nur folgerichtig. Die Buhrufe der Kritiker in Cannes waren also unvermeidlich und man vergisst dabei, dass rund die Hälfte der anderen Kritiker im Raum den Film beklatschte. In der zweiten Vorführung in Cannes gab es sogar Standing-Ovations, was den Film zum mit Abstand meist diskutierten der diesjährigen Filmfestspiele machte. Refn selbst fasste die Buhrufe indes als Kompliment auf, in dem er sagte, das Kunst immer polarisiert und wenn sein Film die Zuschauer so sehr bewegt das sie sogar buhen, umso besser. Hinzu kommt das Only God Forgives mit „Drive“ kaum etwas gemein hat, was wohl viele der Kritiker so nicht erwartet hatten. Das liegt wohl vor allem daran, dass Refn ursprünglich „Only God Forgives“ vor „Drive“ inszenieren wollte, dann aber auf Grund des verlockenden Angebots des kommerziell eher erfolgversprechenderen „Drive“, diesen vorzog. Sicherlich kann man durch die Schweigsamkeit und die Brutalität vergleiche zu „Drive“ ziehen, doch der Film fühlt sich gänzlich anders an. War „Drive“ noch ein Traum mit seinen, gerade zu Beginn, wunderschönen Szenen die erst zum Ende hin in eine Gewaltorgie mündete, so ist „Only God Forgives“ ein regelrechter Alptraum. Das schöne existiert in dieser moralisch verkommenen Welt nicht, mit Ausnahme der betörenden Bilder die Refn auf die Leinwand zaubert. Der in rötlichem Neon-Licht gehaltene Stil des Films ist atemberaubend und der Film, der zu Großteilen aus Nachtszenen besteht, sieht durchweg klasse aus. Dabei wird der Film vom wieder einmal fulminanten Soundtrack von Cliff Martinez untermalt („Drive“, „Spring Breakers“) der „Only God Forgives“ erst recht seinen hypnotischen Touch gibt. Dazu gibt es thailändische Pop-Songs in den teils bizarren Karaoke-Szenen. Daran konnten selbst die härtesten Kritiker nichts bemängeln, doch sie warfen dem Film ein klassisches „Style over Substance“-Problem vor. Die Story des Films sieht auf den ersten Blick auch sehr simpel aus. Der Film ist ein klassisches Rache-Drama bei dem die Charaktere nach und nach weniger werden, nachdem die Fronten erst einmal klar sind. Und auf dieser oberflächlichen Ebene funktioniert der Film auch schlecht, doch was für viele der Kritiker wohl unentdeckt blieb, war die zweite Ebene der Story, auf die man wohl erst beim zweiten Mal schauen stößt. Denn wie in „Walhalla Rising“ gibt Refn der Story auch hier einen tieferen Sinn, der auch die Szenen erklärt die einen beim ersten Mal vielleicht unpassend vorkamen. Diese zweite Ebene erklärt auch wieso der Film „Only God Forgives“ heißt und diese zweite Ebene macht den Film endgültig zu einem der genialsten Filme der letzten Zeit. Aus massiven Spoiler-Gründen wird an dieser Stelle nichts verraten, doch wer den Film schon einmal gesehen hat kann sich diese Erklärung hier durchlesen und sich den Film ein zweites Mal anschauen. Für alle anderen gilt: Was wenn der Polizeichef Gott ist, die Mutter der Teufel und die beiden Söhne die Nachkommen des Teufels? Ausgehend von diesem Denkansatz kann man die Story des Films noch einmal hinterfragen, denn dies ist meiner Meinung nach die eigentliche Story des Films, die man sich jedoch erst selbst erschließen muss. Dadurch bekommen die Charaktere auch genügend Tiefe und erklärt ihre Taten im Film.
Den Charakteren ein Innenleben verschaffen aber auch die durch die Bank weg tollen Schauspieler. Allen voran natürlich Ryan Gosling in einer erneut sehr schweigsamen Rolle. Doch sein Julian ist längst nicht so cool und abgeklärt wie der Driver. Er hat Visionen, fährt aus der Haut und ist ein völliges Weichei. Und auch wenn er kaum spricht, Goslings grandiose Mimik verrät dabei mehr über Julians Gefühlswelt als die viel zitierten 1000 Worte. Ich will mir keinen anderen in der Rolle des Julian vorstellen und das obwohl Ryan Gosling nur einsprang, als der ursprünglich für die Rolle vorgesehene „Fast&Furious 6“-Bösewicht Luke Evans ausstieg, um stattdessen im Hobbit eine Rolle zu übernehmen. Dazu glänzt Kristin Scott Thomas als Julians Mutter und Ekelpaket. Sie geht gnadenlos over the Top und spielt dabei selbst Ryan Gosling an die Wand und das obwohl diese Rolle so gar nicht in die Laufbahn der Britin passt, die sonst meistens die kultivierte Dame aus der oberen Klasse spielt. Hier zeigt sie, dass sie auch anders kann, auch wenn sie selbst das Endprodukt als zu brutal empfindet. Und auch der thailändische Schauspieler Vithaya Pansringarm liefert eine klasse Leistung ab. Der „Angel of Death“ überzeugt mit seinem furchteinflößenden und eiskalten Blick. Er ist der Polizeichef und regiert in der gesetzlosen Welt von „Only God Forgives“. Er ist Richter und Henker in einem und zögert dabei nicht sein messerscharfes Schwert zu zücken.
Fazit: Meine durch die Kritiken zurückgeschraubten Erwartungen übertrifft „Only God Forgives“ um Längen. Mein persönliches Filmhighlight des Jahres polarisiert wie kaum ein zweiter Film und funktioniert nur wenn man sich auf einen Film komplett einlassen kann. Auch wenn „Only God Forgives“ nicht ganz die Klasse eines „Drive“ erreicht, am Ende wird sich jeder selbst sein Bild von Nicolas Winding Refns Kunstwerk machen müssen. Denn nichts anderes ist „Only God Forgives“: Kunst. Ein Arthouse-Meisterwerk mit betörenden Bildern, klasse Schauspielern und tollem Soundtrack vor einer abstoßenden Welt aus Gewalt und einem hypnotischen Erzähltempo. Eine klare Empfehlung an alle Filmliebhaber.