„Ich war ein Schwarzhemd, das in der Weißen Armee die Roten bekämpfte; dann war ich selbst in der Roten Armee und zog gegen die Braunhemden, und jetzt bin ich nur noch ein yellow-belly (ein Feigling) in einem braunen Geschäft.” (Hermann Hermann über sich selbst)
Hermann Hermann (Dirk Bogarde) war ständig auf der Flucht – vor sich selbst und vor einer Gesellschaft, in der er als bürgerliches Subjekt keine Identität finden kann. Jetzt, als er mit einem anderen Schokoladenfabrikanten namens Mayer (Alexander Allerson) über eine Fusion verhandelt, eigentlich eher darum bettelt, fürchtet er, im persönlichen wie politischen Strudel nach Beginn der Weltwirtschafskrise zu versinken. Das allerdings ist ihm nicht bewusst, weil er kein politischer Mensch ist. Es ist ein Gefühl der Angst, das Hermann beschleicht, eine Angst, die ihn nicht lähmt, untätig werden oder in Agonie verfallen lässt. Nein, Hermann kämpft gegen das Braun, das naht, dass alle Ängste zu konzentrieren scheint, positiv (aber nicht für ihn) zu wenden scheint in eine verfälschte Identität.
Alles um ihn herum scheint sich mehr und mehr auf diese Identität hin zu bewegen, sein Produktionsleiter Müller (Peter Kern) zum Beispiel, der über Versailles schimpft und eines Tages in brauner Uniform erscheint, sich den Kragen zurechtrückt, als ob er sich vergewissern wolle, dass er er ist, er aber als ein Ich, das seine Bestimmung im Führer gefunden zu haben scheint. Müller vergewissert sich seiner Männlichkeit, die eine neue Identität in Rasse und Nation als quasi weibliches Pendant annimmt – eine Entwicklung, die Hermann noch mehr Angst macht.
Doch Hermann Hermann ist kein Antifaschist, kein politischer Mensch. Er empfindet dies auf einer ganz „persönlichen”, sozusagen privaten Ebene. Seine Fluchtbewegungen, die jetzt folgen, sind keine, zu denen sich die politisch Verfolgten nach 1933 gezwungen sahen. Hermann ist auch keiner, bei dem man von „innerer Emigration” sprechen könnte. Er zieht sich nicht zurück in ein Kloster oder den Bayerischen Wald. Hermann versucht, seiner bürgerlichen Existenz, seiner Identität zu entfliehen, eine Hülle abzustreifen, um in eine neue zu schlüpfen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen.
Fassbinder zeichnet in „Despair” nach einem Roman von Nabokov und auf Basis eines Drehbuchs, das ihm einer der bekanntesten Drehbuchautoren, Tom Stoppard, schrieb, das Bild eines Mannes, den die Identitätskrise, genauer seine Krise als bürgerliches Subjekt, in die Randzonen des Wahnsinns, des Verbrechens und des Realitätsverlusts treibt. Seine Ehe mit der un-intellektuellen und un-intelligenten Lydia (Andréa Ferréol) ist gescheitert. Hermann ist impotent. Seine Reaktion auf diese Impotenz ist Verdrängung durch Verdopplung. Schon in einer der ersten Szene sieht man ihn im Dunkeln sitzen, wie er sich selbst beim Sex mit Lydia zuschaut. Er phantasiert seine Potenz durch Verdopplung seiner selbst und Verleugnung seines Defizits. Lydia hat ein Verhältnis mit ihrem im Hause des Ehepaares lebenden Cousin Ardalion (Volker Spengler), einem Maler. Auch dies verdrängt Hermann. Er nimmt es nicht wahr, weil er es nicht wahrnehmen will.
Mit dem beruflichen (die Fusionspläne Hermanns scheitern) wie privaten Desaster des Schokoladenfabrikanten korrespondiert das Scheitern der Weimarer Republik. Die Geschichte spielt vor allem im Zeitraum nach dem Rücktritt des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller, ein Rücktritt, der einen Wendepunkt hin zur Machtübernahme der Nationalsozialisten darstellte. Doch diese Korrespondenz zwischen den privaten Ängsten Hermanns und den politischen Entwicklungen bis 1933 ist für Hermann selbst nicht sichtbar. Zunehmend verliert Hermann die Fähigkeit zur Wahrnehmung dessen, was um ihn herum vorgeht. Im Versicherungsmakler Orlovius (Bernhard Wicki) sieht Hermann einen Psychologen, bei dem er sich über seinen Weg zu einer neuen Identität rückversichern will. Als Orlovius und Ardalion über die politischen Ereignisse sprechen und Lydia Hermann fragt, wie er darüber denkt, antwortet er: „Ich denke gar nicht. Ich habe nur mein Leben versichert.”
Auch hier wieder eine Dopplung. In der bei Orlovius abgeschlossenen Lebensversicherung und in der psychologischen (Selbst-)„Versicherung” über eine neue Identität manifestieren sich Hermanns Wünsche nach einer inneren Flucht, die durch eine äußere „nur” begleitet wird. Er lernt den Gelegenheitsarbeiter Felix Weber (Klaus Löwitsch) kennen, der ihm ähnlich sehe, wie er meint. Tatsächlich jedoch besteht keine Ähnlichkeit zwischen beiden. Auch hier wieder: Hermann sieht, was nicht ist, und sieht nicht, was ist. Er bietet Weber Geld, wenn der in Hermanns Kleidern in einem Auto an einen Ort fährt, wo man Hermann kennt. Lydia erzählt Hermann, er habe seinen ihm ähnlich sehenden Bruder getroffen, der ein Mörder sei, sich deswegen gräme und Selbstmord begehen wolle. Er, Hermann, wolle ihm dabei helfen, weil sein Bruder (in Wirklichkeit Felix) ihn darum gebeten habe, dann in dessen Haut schlüpfen und in der Schweiz ein neues Leben beginnen.
Hermann schneidet Felix die Nägel, macht ihn zurecht, lässt ihn seine Kleidung anziehen – und erschießt ihn. Man soll denken, man habe ihn, Hermann, ermordet, und er will als Felix eine neue Identität annehmen. Im Traum phantasiert er ein Treffen zwischen ihm und Lydia am Genfer See. Als sich im Traum Hermann zu Lydia umdreht, sieht der Zuschauer Felix, der keine Ähnlichkeit mit Hermann hat. Aber Hermann sieht sich in Felix.
Selbst als die Polizei Hermann festnimmt, schlüpft er wieder in eine neue Rolle. Hier endet der Film. Aber Hermann wird bis zu seinem Tod immer wieder versuchen, „aus seiner Haut zu fahren”.
Fassbinder visualisiert diese Geschichte, die eher eine Art Psychogramm des Endes des Weimarer Republik und des Protagonisten im Film darstellt, in fast unnahbaren Bildern. Michael Ballhaus fotografierte insbesondere Dirk Bogarde als Hermann Hermann aus einer fast schon kalten Distanz heraus, die eine Identifizierung mit Hermann kaum zulässt. Immer wieder entzieht sich diese Person der Nähe des Betrachters. Der Film endet, wie er anfing, wenn auch auf einer Art „höheren Ebene”. Die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion verschwinden, weil sie für Hermann keine Bedeutung haben. Sein Kreisen im magisch-tragischen Dreieck von Wahnsinn, Identitätsverlust und der Suche nach einer anderen Identität ist eine Bewegung im subjektiven Teufelskreis, umrahmt von politischen Entwicklungen, die Hermann nicht wirklich wahrnimmt. Zugleich wird dadurch die Wahrnehmung des Betrachters bzw. genauer: das Verhältnis zwischen Zuschauer und Kino kritisch durchleuchtet. Denn der Zuschauer sieht, was nicht existiert, und sieht nicht, was existiert – wie Hermann Hermann auch.
„Es scheint mir sogar zuweilen, als habe mein Grundthema, die Ähnlichkeit zwischen zwei Personen, eine tiefe allegorische Bedeutung. [...] In meiner Phantasie stelle ich mir eine neue Welt vor, in der alle Menschen einander so ähnlich sehen wie Hermann und Felix; eine Welt der Helixe und Fermänner; eine Welt, wo ein Arbeiter, der zu Füßen seiner Maschine tot umfällt, sofort durch seinen vollkommenen Doppelgänger ersetzt wird, der das heiter-gelassene Lächeln des vollkommenen Sozialismus auf den Lippen trägt.” (1)
Die Kritik bürgerlicher Subjektivität in einer durch ökonomische wie persönliche Krise gekennzeichneten Zeit besteht vor allem darin deutlich werden zu lassen, dass Hermanns Flucht in den Wahnsinn dort endet, wo sie begonnen hat: im Identitätsverlust. Der Abschluss der Lebensversicherung und der Mord an Felix Weber sind reel betrachtet nichts anderes als der Versuch der Reproduktion genau dieser bürgerlichen Subjektivität, der Hermann doch entfliehen wollte. Tatsächlich geht es ihm dabei nicht in erster Linie um Geld, sondern um Identität. Aber selbst das Scheitern dieses Wegs wird Hermann nicht bewusst. Er behauptet gegenüber den ihn festnehmenden Polizeibeamten, er sei ein berühmter Schauspieler. Und an dieser Stelle, ganz am Schluss, macht Fassbinder etwas, was alles bisher Gezeigte in einer anderen Perspektive erscheinen lässt. Er lässt Dirk Bogarde sagen: „Schaut nicht in die Kamera. Ich komme heraus.”
Durch diese Worte entsteigt Hermann Hermann bzw. Dirk Bogarde quasi dem Film selbst. Der Identitätsverlust Hermanns als Ausgangspunkt des Films, gekennzeichnet durch Kastrationsangst (Impotenz) und Mord als Ausdruck der Flucht vor diesem Verlust an Subjektivität, wird „plötzlich” zum Problem des Betrachters selbst, der sich in einem anderen magischen Dreieck wiederfindet: als Zuschauer zwischen dem „Auge” Kamera und den Darstellern. Der Identitätsverlust bzw. irgendein persönlicher Verlust oder ein Defizit des Betrachters werden „plötzlich” zum eigenen Problem des Zuschauers im Verhältnis zum gerade Gesehenen; der visuelle Konstruktivismus, der Voyeurismus und auch das Einlassen des Betrachters auf die „Prostitution”, die das Kino bewerkstelligt, entpuppen sich als Bindeglied, als Kitt zwischen erzählter Geschichte und Publikum. Das weist – äußerst kritisch – auf die Macht der Bilder, die Fassbinder in „Despair” dekonstruiert – vor einem zeitgeschichtlichen Kontext, der alles andere als „unschuldig” erscheinen kann.
Es verweist aber auch und eben gerade auf eine defizitäre Bestimmung dessen, was wir „Identität”, „Subjektivität” nennen, vor allem in der Hinsicht, dass unter Identität oft etwas Fixes, Ahistorisches, Zeitloses verstanden wird, das das bürgerliche Subjekt eindeutig in Raum und Zeit „verorten” soll.
Für Fassbinder, so ist stark zu vermuten, war dieses Identitätsverständnis zentraler Ausgangspunkt für das, was im Film Produktionsleiter Müller verkörpert: Die Erneuerung der Identität im Zeitpunkt des Verlustes auf etwas außerhalb liegendes, hier: den Führer. Was für Müller der richtige Weg, ist für Hermann deshalb falsch, weil ihm diese „Ersatz-Identität” Angst macht. Er sucht im Privaten (Felix Weber), was Müller im Politischen (Hitler) zu finden glaubt. Hermann tötet einen anderen in der Hoffnung, in dessen Haut zu schlüpfen. Müller wird andere töten, sobald ihm die kollektive Veranstaltung des Nationalsozialismus dies erlaubt, um seine Identität zu reproduzieren. Die strukturelle Übereinstimmung in beiden Fällen ist trotzdem gegeben, auch wenn die tragischen Folgen beider Wege nicht zu vergleichen sind.
Die historische Aussage Fassbinders ist in dieser Hinsicht eindeutig: Der Weg Hermanns ist das unbewusste Eingeständnis des Zusammenbruchs bürgerlicher Subjektivität und (negatives) Symbol der Ankunft des Nationalsozialismus, und damit auch und vor allem des Staates als identitätsstiftender Kraft der Entsubjektivierung und Vernichtung.
(Zuerst erschienen bei CIAO)
(1) Vladimir Nabokov: Verzweiflung, in: ders.: Frühe Romane 3, 1997, S. 474 f.