Alexander Payne („About Schmidt", „Election") ist ein unerbittlicher und zugleich liebevoller Chronist amerikanischer Befindlichkeiten. Er entlarvt die großen und kleinen Schwächen seiner kauzigen Figuren, begegnet ihnen aber dennoch immer mit entwaffnender Sympathie. Sieben lange Jahre nach seiner gefeierten Weintrinker-Ballade „Sideways" vollbringt der Regisseur mit „The Descendants" ein kleines Wunder sensibel ausbalancierten Erzählens: Sein analytischer Scharfblick ist hier gnadenlos wie noch nie und trotzdem ist die herausragend gespielte und betörend fotografierte Tragikomödie ein Meisterstück mitfühlender Menschlichkeit. Payne trifft mit schlafwandlerischer Sicherheit immer zum passenden Zeitpunkt die passende Note und komponiert ein virtuoses atmosphärisches Meisterwerk.
Die Welt des Anwalts Matt King (George Clooney) ist nur an der Oberfläche perfekt. Er lebt im paradiesischen Hawaii mit seiner Frau Elizabeth (Patricia Hastie) und den beiden Töchtern, der rebellischen Alex (Shailene Woodley) und der altklugen Scottie (Amara Miller), verdient eine Menge Geld und führt als Patriarch eine Großfamilie mit einer kaum überschaubaren Anzahl von Cousins und Cousinen. Die Sippe besitzt seit Jahrhunderten ein sehr wertvolles Stück unberührtes Land, das einen Marktwert von einer halben Milliarde Dollar hat. Der Druck seiner Angehörigen auf den als Treuhänder eingesetzten Matt wächst beständig, das Erbe so teuer wie möglich zu verscherbeln. Das bringt ihn nicht aus der Ruhe, aber als seine abenteuersüchtige Frau nach einem Bootsunfall ins Koma fällt, wird Matts Leben radikal auf den Kopf gestellt. Er findet heraus, dass Elizabeth eine Affäre mit dem jüngeren Immobilienmakler Brian Speer (Matthew Lillard) hatte und ihn verlassen wollte. Zwischen Ohnmacht und Trauer schnappt sich Matt seine beiden Töchter und Alex‘ Freund Sid (Nick Krause) und macht sich auf die Reise, seinem Erzfeind Brian gegenüber zu treten...
Wer sich den unspektakulären Trailer zu „The Descendants" anschaut, wird sich womöglich etwas verwundert die Augen reiben und sich fragen, warum die Tragikomödie als einer der großen Favoriten ins Oscar-Rennen 2012 geht. Dass es dafür tatsächlich triftige Gründe gibt, lässt sich nur anhand des vollständigen Films ermessen, denn erst dort kommen Alexander Paynes perfekter Erzählrhythmus und sein grandioses Gespür für Stimmungen zum Tragen - die enorme Bandbreite reicht von irrsinnig komischen bis zu herzzerreißenden Momenten voll bitterster Tragik. Vor allem die mit Bedacht platzierten dramatischen Hiebe in die Magengrube haben eine unglaubliche emotionale Wucht. Es gelingt Payne rührend zu sein, ohne jemals Kitsch zu zelebrieren. Jede Note, jeden Ton, jedes Wort und jedes Bild setzt er an die richtige Stelle und schafft ein erzählerisches Glanzstück vor traumhaftem Hawaii-Hintergrund, den Kameramann Phedon Papamichael („Todeszug nach Yuma", „The Ides of March") in paradiesisch schönen Einstellungen eingefangen hat.
Am Anfang verleiht Alexander Payne seinem Film Anklänge an eine Sozialsatire, aber im weiteren Verlauf gibt er ihm immer neue Dimensionen. Zu Beginn schwadroniert George Clooneys Matt King noch über seine in seinen Augen weltfremden Freunde vom Festland, die denken, nur weil er auf Hawaii lebe, befinde er sich auf Dauerurlaub im Paradies: „Wir schlürfen hier alle nur Mai Thais, wackeln mit den Hüften und gehen surfen. Spinnen die?" Hier wird natürlich angesichts des luxuriösen Lebensstandards von Matts Familie auf hohem Niveau gejammert und Payne schafft eine enorme Fallhöhe für seine Hauptfigur. Mit den folgenden persönlichen Schicksalsschlägen wird mit einem Mal die Belanglosigkeit solcher Pseudo-Sorgen klar. Sie spielen von nun an keine Rolle mehr, denn Matt muss sich jetzt mit universellen Fragen und Emotionen auseinandersetzen: Aus der Geschichte eines privilegierten Anwalts wird das Drama eines Menschen wie du und ich.
George Clooney ist die Idealbesetzung für die Hauptrolle, denn er besitzt die Aura eines klassischen Hollywood-Stars und wirkt gleichzeitig wie jemand, mit dem man ganz ungezwungen ein Bier trinken kann. Dieses scheinbare Paradox kommt auch bei Matt zum Tragen, den Clooney zu einem Edel-Jedermann von außergewöhnlichem Format und damit zu einem famosen Sympathieträger werden lässt. Das Leben dieses Matt King droht an allen Ecken und Enden auseinanderzubrechen, nichts ist mehr wie es schien. Von seiner Frau betrogen, von der 17-jährigen Tochter Alex nicht ernstgenommen, als Ersatzelternteil verspottet und von der Familie unter Druck gesetzt, muss sich Matt mit bitteren Wahrheiten einer ungeahnten familiären Parallelwelt auseinandersetzen. Clooney ist hier einmal nicht der eiskalte Beau, der Chaos routiniert managt, wie zuletzt in „Michael Clayton" oder „Up in the Air", sondern sein Matt ist wesentlich bodenständiger. Er trägt geschmacksresistente Hawaii-Hemden und graue Bundfaltenhosen, sein Silberhaar ist diesmal etwas weniger gut sortiert als gewohnt - und er hat die Dinge keineswegs unter Kontrolle. Clooneys besondere Leistung ist es, dass Matt seine Würde nie verliert und dass die Wohlanständigkeit, mit der er der Situation begegnet, niemals spießig wirkt.
„The Descendants" ist aber alles andere als eine One-Man-Show Clooneys - dazu ist das scharfzüngige Drehbuch von Alexander Payne, Nat Faxon und Jim Rash nach Kaui Hart Hemmings' gleichnamigem Debüt-Roman viel zu stark und ausgewogen. So erweist sich B-Movie-Haudegen Robert Forster („Jackie Brown") als kolossaler Szenendieb und verleiht Clooneys vorwurfsvollem Schwiegervater eine penetrante Garstigkeit. Die Überraschung des Films ist aber Newcomerin Shailene Woodley, die bei ihrem Kino-Debüt als eigenwillige Teenagerin eine überragende, oscarreife Leistung zeigt. Wenn Alex am Anfang des Films sturzbetrunken im Internat eingesammelt wird, ist die Figur noch kaum mehr als ein Klischee, aber Woodley entwickelt sie in wenigen Szenen zu einer echten Persönlichkeit mit Ecken und Kanten. Alexander Payne erweist sich nicht nur hier als sensibler Schauspielerregisseur und führt selbst den vordergründig als kauziger Sprücheklopf-Sidekick angelegten Sid (komisch: Nick Krause) nicht etwa als einfältigen Tor vor, sondern offenbart hinter der Fassade des bräsigen Surferjungen mehr Substanz als die anfänglichen coolen Kalauer erahnen lassen. Der ganze Film steckt bis hin zu der bewegenden Leistung von Judy Greer als betrogene Ehefrau von Brian Speer und dem charismatischen Auftritt von Beau Bridges („Die fabelhaften Baker Boys") gegen Ende, voller schauspielerischer Glanzlichter.
Fazit: „The Descendants" hätte in den falschen Händen ganz leicht zu einer rührseligen Schmonzette verkommen können, doch stattdessen wird die bittersüße Tragikomödie zu einem Triumph für Regisseur Alexander Payne, der mit seinem wundervollen, warmherzigen Film nicht nur tief bewegt, sondern auch königlich amüsiert. „The Descendants" ist ein heißer Oscar-Kandidat mit einem George Clooney in Glanzform.