Dagegen sieht „Black Beauty“ aus wie ein alter, abgetakelter und übergewichtiger Kaltblutgaul: Beim Palio in Siena, Italien, einem der härtesten Pferderennen der Welt, treten nur die besten Hengste und die raubeinigsten Jockeys gegeneinander an. Ihr Auftrag: dem Stadtteil, der sie ins Rennen geschickt hat, zum Sieg zu verhelfen. Mit welcher Passion die Bewohner von Siena bei diesem Rennen dabei sind und wie sehr ihr Selbstwertgefühl davon abhängt, zeigt der Dokumentarfilm „Il Palio - Das Rennen von Siena“ von John Appel. In schönen Bildern und einer Dramaturgie, die sich sehen lassen kann, fängt der Regisseur die Atmosphäre vor und während des Rennens ein und macht deutlich: In Siena kennt man den Spruch „Dabei sein ist alles“ nicht. Hier zählt einzig und allein der Sieg über die Kontrahenten.
Einmal im Jahr ist der Teufel los in Siena, das in der Toskana liegt. Jeder Bewohner der Stadt ist auf den Beinen, und aus allen Richtungen kommen Touristen geströmt, nur um dem Palio, dem berühmt-berüchtigten Pferderennen beizuwohnen. Bei dem geht es nämlich um nichts weniger als um die Ehre der verschiedenen Stadtteile Sienas. Als Protagonisten für seine Dokumentation hat sich der Regisseur den kleinsten Stadtteil Sienas ausgesucht, Civetta. Dieser hat 1979 den letzten Sieg nach Hause getragen und nimmt seitdem lediglich erfolglos am Rennen teil. Jedes Jahr hoffen die Menschen aus Civetta wieder auf einen Sieg, doch bis jetzt wurde ihnen dieser verwehrt.
Mit einem kleinen Kamerateam ist es Appel gelungen, die Vorbereitungen auf das Rennen in dem kleinen Stadtteil Civetta und die angespannte Atmosphäre einzufangen. Da werden sakrale Weihzeremonien vorgenommen, um sich die Unterstützung von ganz oben zu sichern. Da wird ein Jockey eingekauft, für dessen Honorar der gesamte Stadtteil zusammenlegt. Und da wird im Vorfeld eine große Feier veranstaltet, um alle Bewohner so richtig auf das Großereignis einzustimmen und alle zusammenzuschweißen. Der quasi-ethnografische Blick auf das Geschehen ist dicht und zeigt, wie sehr anhand des Rennens Gemeinschaft und Identität gestiftet wird. Mit welcher inbrünstigen Emotionalität die Bewohner Sienas ihrem Pferderennen verpflichtet sind, wird anhand der zahlreichen Interviewpartnern deutlich. Vorgestellt wird zum Beispiel einer junger Mann, der darüber philosophiert, mit welchem Gefühl man das Rennen vergleichen könne. Es gäbe wohl nur eine einzige Emotion, die mit einem Sieg beim Palio mithielte, so der junge Mann und das wäre ein Orgasmus. Da bewahrheitet sich also der altbekannte Spruch: Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. Ähnlich fanatisch redet ein älterer Mann daher. Der wünscht sich nämlich nichts sehnlicheres als einen Sieg Civettas, denn erst dann könne er beruhigt sterben, so der Greis. Ein Zugereister erzählt vor der Kamera, dass er es damals, als er noch neu in der Stadt war, den Tumult um das Rennen sehr befremdlich fand. In der Zwischenzeit könne er sich dem jedoch nicht mehr entziehen. Vorsicht also: Der Palio ist ansteckend.
Das Rennen selbst findet auf dem Marktplatz von Siena statt, der extra für das Ereignis mit Sand präpariert wird. Allerdings ist der Platz so eng, dass jedes Jahr mehrere Pferde beim Versuch die buchstäbliche Kurve zu kriegen, gegen die Banden knallen. Das sieht nicht nur gefährlich aus, sondern ist es auch. Mit allen fairen und unfairen Mitteln kämpfen die Jockeys am Start um eine gute Position. Da scheint der Einsatz des Ochsenziemers gegenüber dem gegnerischen Pferd und Reiter fast zum Standardrepertoire zu gehören.
Die Erzählstruktur ist klassisch dramatisch als eine Art Countdown konzipiert. Der Film beginnt die Aktivitäten der Bewohner Civettas sechs Wochen vor dem Rennen aufzuzeichnen und schon da merkt man: egal ob Greis oder junges Mädchen – irgendwie scheinen die Gedanken der Menschen aus Civetta nur um diese eine einzige Sache zu kreisen – das Pferderennen. Appel versteht es sehr geschickt, das Tempo im Film kontinuierlich anzuziehen und somit eine nervenaufreibende Spannung zu erzeugen. Je weiter der Film voranstreitet, desto sehnlicher wünscht sich der Zuschauer, dass Civetta in diesem Jahr erfolgreich sein wird, dass die Menschen endlich wieder einen Grund haben, stolz zu sein. So sehr scheint die kollektive Selbstsicherheit und das Selbstwertgefühl von diesem Rennen abzuhängen. Ob ihnen dieser Wunsch erfüllt wird?
Kritisieren lassen sich am Film lediglich ein paar Kleinigkeiten. So hätte etwas mehr Geschichtliches über die vergangenen sieglosen Jahre dem Film sicherlich noch mehr Tiefe gegeben. Leider beschränkt sich das historische Material im Film auf das legendäre Rennen von 1979, in dem Civetta den letzten Sieg einheimsen konnte. Gerade die älteren Leute, die immer wieder im Film auftauchen, hätten sicherlich viel über die vergangenen, sieglosen Jahre zu erzählen gewusst. Auch wird im Film suggeriert, das Rennen finde nur einmal im Jahr statt. De facto aber gibt es zwei Termine, bei denen sich die Kontrahenten messen können. Alles in allem betrachtet stellt „Il Palio“ eine der besseren ethnografischen Dokumentationen dar, die tatsächlich einen spannenden Einblick in das Leben der Bürger von Siena gibt. Dafür wurde die Dokumentation 2004 mit dem Hauptpreis für die beste Kamera sowie den besten Schnitt beim Nederlands Film Festival ausgezeichnet.
Wer Lust auf weitere Dokumentationen über Italien bekommen hat, dem sei die Filmreihe des Verleihs empfohlen. Mit Die Träume Neapels und „Opernfieber“ hat Salzgeber zwei weitere Filme im Programm, die Einblicke in die bunten Facetten des heutigen Italiens geben.