Wie unterschiedlich historische Stoffe mitunter filmisch aufbereitet werden können, zeigt das Beispiel „Van Diemen’s Land“. Während im vergangenen Jahr der mäßige Backwoods-Horrorstreifen Dying Breed auf konventionelle Spannungseffekte setzte, macht Jungregisseur Jonathan auf der Heide aus derselben Geschichte eine Parabel über die fragwürdige Natur des Menschen. Beiden auf dem Fantasy Filmfest präsentierten Werken liegt der populäre Alexander-Pearce-Mythos zu Grunde. Australiens berühmtester Häftling floh anno 1822 zusammen mit sieben weiteren Männern aus britischer Strafgefangenschaft in die Wildnis von Tasmanien. Hunger brachte die Zweckgemeinschaft letztendlich dazu, wie die Kannibalen übereinander herzufallen. Nur Pearce überlebte. Für italienische Exploitation-Filmer wie Ruggero Deodato („Nackt und zerfleischt“) wäre der Stoff ein gefundenes Fressen gewesen und auch der B-Picture-Streifen Dying Breed spekulierte auf billige Bluteffekte. Nicht so Jonathan auf der Heide. Mit chirurgischer Präzision und in einer beeindruckenden Konsequenz bleibt er nah dran an den Fakten und lässt sich nicht auf vordergründige Splatterexzesse ein. Ihn interessiert – ganz ähnlich wie Frank Marshall in seinem Absturzdrama „Überleben“ – was täglicher Hunger in einem Menschen für schauderhafte Verhaltensweisen auslösen kann. Ein weiterer Aspekt, den auf der Heide in „Van Diemen’s Land“ herausstellt, sind die nach der ungeheuerlichen Tat auftretenden Veränderungen im Kommunikations- und Gruppenverhalten.
Gleich zu Beginn seines klar strukturierten Survival-Dramas lässt auf der Heide den Erzähler Alexander Pearce die dürren Worte sagen: „Ich bin ein ruhiger Mann.“ „Gefährlich“ sollte hier eigentlich noch der Zusatz lauten. Aber so schnell lässt auf der Heide die Katze nicht aus dem Sack. Lieber springt der Regisseur gleich in die Handlung hinein, zeigt aussagekräftig und in Großaufnahme einen widerlich schmatzenden englischen Soldaten beim Verzehr eines glitschigen, fettigen Fleischstücks. Die Szene wird unter anderen Vorzeichen später wieder aufgenommen. Bald wechselt der Fokus von den britischen Soldaten zu acht barfüßigen Männern, die in abgerissenen Kleidern in einer Reihe an einem Fluss stehen. Sie sind Gefangene, täglich dazu verdammt, auf der australischen Insel Tasmanien – nach ihrem niederländischen Entdecker auch Van-Diemens-Land genannt – Holz zu hacken. Doch die acht unterschiedlich alten und sozialisierten Männer sind die anstrengende Tätigkeit satt. Sie können ihren Bewacher überwältigen und in den undurchdringlichen Dschungel fliehen. Ihr Ziel: der Hafen von Macquarie. Doch in der Gruppe brodelt es, Jung gegen Alt, Schotten gegen Iren, Schweigsam gegen Redselig. Bald treibt es die finsteren Gestalten zunehmend in den Wahnsinn. Denn der Wald scheint wie ausgestorben, Essbares ist einfach nicht aufzutreiben und weit und breit kein Dorf in Sicht. Als Alexander Pearce (Oscar Redding) gefragt wird, ob der unbeliebte Jungspund Alexander Dalton (Mark Leonard Winter) dran glauben muss, nickt er den Mord aufgrund seines unstillbaren Verlangens nach Nahrung ab…
„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, verkündete einst Thomas Hobbes in seinem Standardwerk „Leviathan“. Eine These, die der Film „Van Diemen’s Land“ mit beeindruckenden Bildern untermauert. Jonathan auf der Heide erzählte die grausame Kannibalengeschichte bereits 2008 in seinem preisgekrönten Studentenkurzfilm „Hell’s Gates“. Wie die Menschenfresser im Film scheint auch er von der grausamen Materie nicht loszukommen. Nahezu mit demselben Team rollt er den Pearce-Fall für „Van Diemen’s Land“ noch einmal auf, was sich bezahlt macht. Die außerhalb Australiens weitgehend unbekannten Schauspieler wirken allesamt authentisch in ihren undankbaren, weil bärtigen und haarigen Rollen. Aus dem Ensemble ragt nur der an den jungen Daniel Day-Lewis erinnernde Mark Leonard Winter heraus. Auch die dissonante, verschrobene Filmmusik passt zur finsteren Grundstimmung von „Van Diemen’s Land“. Mutig ist die Entscheidung des Regisseurs, auf eine klassische Spannungsdramaturgie zu verzichten. Ihn interessieren die Verhaltensweisen der Männer, die misstrauischen Blicke, die brüchigen Fraktionen und ihre moralische Niedertracht. Dabei wiederholt er bewusst Lagerfeuersequenzen, Flussüberquerungen und Bergbesteigungen. Auf der Heide kommt es auf kleine Veränderungen an. Wer spricht was aus und warum? Die zunehmende Zermürbung der Protagonisten überträgt sich dabei auf den Zuschauer. Morde lässt van der Heide weitgehend außerhalb des Bildes stattfinden. Sie wirken dabei aber nicht weniger verstörend, wenn man weiß, was genau da gerade über dem Lagerfeuer brät.
Abgerundet wird der in seiner Intensität und Härte an Herzog-Filme (Aguirre, der Zorn Gottes, Fitzcarraldo Rescue Dawn) erinnernde Trip in die tasmanische Hölle von der überragenden Bildsprache des australischen Kameramanns Ellery Ryan. In verwaschenen, tristen Farben und mit dem genauen Blick für charakteristische Naturstrukturen und -Räume eines Andrej Tarkowskij (Stalker) gelingen Ryan geniale Aufnahmen aus einem dunklen Dschungelreich, wie sie in dieser Qualität zuletzt nur in Lars von Triers Antichrist zu sehen waren. Besonders eindrucksvoll sind seine erhabenen Wald-Standbilder, in die ameisenklein und zuerst kaum bemerkbar die acht Flüchtenden immer wieder eindringen. Auf der Heides Aussage wird damit noch klarer: Diese Natur ist von Menschen nicht zu bezwingen, sie bezwingt die Menschen.
Fazit: Jonathan auf der Heide ist ein Name, den man sich merken sollte. Nicht wegen seiner Kuriosität, sondern aufgrund seines handwerklichen Könnens, das in vielen Szenen des strukturell an ein Tagebuch erinnernden Kannibalen-Dramas „Van Diemen’s Land“ aufblitzt. Derbe Splatterszenen, hohes Tempo und spannende dramaturgische Wendungen werden hier nicht geboten. Dafür ein ungeheuer genauer Blick in die dunkle Seele des Menschen. Und was auf der Heide dabei zu Tage fördert, regt im Anschluss zu reichlichen Diskussionen an.