Pam Grier. Manche Tarantino-Fans nahmen dem „Meister“ übel, dass er in „Jackie Brown“ nach einem Roman von Elmore Leonard den Star der blaxploitation-Filme der 70er Jahre (u.a. „Coffy“, 1973; „Foxy Brown“, 1974; „The Big Dollhouse“, 1971; „The Big Bird Cage“, 1972) derart in den Mittelpunkt der Handlung schob, dass man schon annehmen „musste“, der Herr Regisseur habe sich verliebt – ob das ein Gerücht ist oder nicht, interessiert mich ehrlich gesagt nicht. Tatsächlich beginnt der Film – eine Mischung aus typischer Tarantino-Dramaturgie, Krimi, Groteske und Referenz an die Popkultur der 70er Jahre – mit einer Einstellung, in der nur Pam Grier zu sehen ist: als Stewardess Jackie Brown, die im Los Angeles International Airport auf den endlosen Rollbändern und breiten Gängen schnellen Schritts zum Flug der Cabo Air eilt. Die Kamera hält nicht nur hier im Vorspanntitel, sondern auch in etlichen anderen Szenen voll auf Pam Grier, vor allem auf ihr Gesicht.
Der Waffenschmuggler Ordell Robbie (Samuel L. Jackson) schaut sich mit dem gerade nach einer Haftstrafe wegen Bankraubs entlassenen Freund Louis Gara (Robert de Niro) einen TV-Film mit dem Titel „Chicks who loves Guns“ an: Frauen im Bikini mit den neuesten Super-MGs. Während Ordell mit seiner Begeisterung für Waffen nicht zurückhält, ist Louis gelangweilt, müde, fast träge. Man sieht ihm an, dass er im Grund nur eines begehrt: RUHE. Anwesend ist auch Melanie (Bridget Fonda), leicht bekleidet, Haschpfeife rauchend, die Beine schlenkernd auf dem Sofa. Die drei befinden sich in Melanies Wohnung, die Ordell bezahlt. Ordell hat mehrere solcher Wohnungen, in denen er ihm hörige Damen eingenistet hat. Er erzählt Louis von 500.000 Dollar, die er in Mexiko aus seinen Geschäften gebunkert habe. Da bekommt er einen Anruf eines seiner Helfer, Beaumont (Chris Tucker). Der wurde wegen Trunkenheit im Verkehr eingebuchtet. Ordell holt ihn raus. Bei dem erfahrenen Kautionsvermittler Max Cherry (Robert Forster) hinterlegt er die dazu nötigen 10.000 Dollar – allerdings nur, um den inzwischen freigelassenen Beaumont, den er unter einem Vorwand dazu bewegt hat, in seinen Kofferraum zu steigen, des nachts mit zwei Schüssen zu ermorden, damit der Ordell nicht verpfeift.
Die beiden Detectives Mark Dargus (Michael Bowen) und Ray Nicolette (Michael Keaton) nehmen am Flughafen Jackie Brown fest. Sie hat 50.000 Dollar im Handgepäck, und die beiden Cops wollen wissen, woher das Geld stammt und ob sie Ordell kenne. Nicolette erzählt ihr von dem Mord an Beaumont. Als Jackie beharrlich schweigt, locht man sie wegen Drogenbesitzes ein. In ihrer Tasche hätten sie ein Tütchen Kokain gefunden. Das war für Melanie als Mitbringsel gedacht. Wieder muss Ordell zu Cherry, bittet ihn, die 10.000 Dollar für Beaumont, die jetzt ja freigegeben sein müssten, für die Freilassung von Jackie Brown zu verwenden. Nur widerwillig nimmt Cherry den Auftrag an, nachdem ihm Ordell seinen Anteil bar bezahlt. Cherry holt Jackie aus dem Gefängnis ab; er ist von Anfang an stark beeindruckt von der 44-jährigen Frau, geht mit ihr noch in eine Bar, bevor er sie nach Hause fährt. Cherry meint, sie müsse sich auf einen Deal mit der L.A.P.D. einlassen, dann bekäme sie nur eine geringe Haftstrafe. Als er sich von ihr verabschiedet, wartet bereits Ordell vor Jackies Wohnung. Ordell hat natürlich mit Jackie das gleiche vor wie mit Beaumont. Doch Jackie hat die Pistole aus Cherrys Handschuhfach mitgehen lassen und drückt sie Ordell in den Bauch, als dieser ihre Wohnung betritt: Kein Mord. Statt dessen schlägt Jackie einen Deal vor: Sie schweigt und Ordell zahlt ihr dafür 100.000 Dollar. Sie habe auch schon einen Plan, die halbe Million aus Mexiko herzuschaffen.
Den beiden Polizisten schlägt sie ebenfalls einen Handel vor: Sie lassen sie das Land verlassen, weil sie sonst ihren Job verliere, und versprechen ihr Straffreiheit, dafür werde sie ihnen helfen, Ordell festzunageln. Ordell erklärt sie ihren Plan von einer offenen und einer versteckten Geldübergabe in einem Kaufhaus. Cherry bleibt im Hintergrund, um die Abwicklung des doppelten Betrugs zu beobachten und wenn nötig einzugreifen. Jackie will natürlich das Geld für sich, um aus der verzwickten Situation zwischen Gefängnis und drohendem Tod herauszukommen und irgendwo anders ein neues Leben anzufangen ...
In „Jackie Brown“ – äußerlich ein Krimi – geht es weniger um eine komplexe Handlung. Die relativ simple Handlung selbst wird eindeutig bestimmt von den Charakteren, ihren Beziehungen zueinander. Da tauchen vor allem „Zweierbeziehungen“ auf: Ordell und sein Freund Louis (eine von Ordell beherrschte „Freundschaft“ im Sinne von großer bestimmender Bruder), Jackie und Max (Sehnsucht von Max nach Liebe, Jackies Verlangen nach Vertrauen), Jackie und Ordell (weibliche Intelligenz versus männliche Dominanz), Ordell und Max (Max durchschaut die banale Skrupellosigkeit Ordells), Ordell und Melanie (Melanie als Objekt Ordells in jeder Hinsicht, Melanies Verachtung gegenüber Ordell), Melanie und Louis (Louis Ruhebedürfnis versus Melanies Versuch, ihn für einen Betrug einzuspannen: Sex in weniger als drei Minuten als Köder), Jackie und die beiden Polizisten. Diese Paare, ihre Beziehung zueinander sind die eine Ebene, auf der sich die Handlung systematisch aufbaut. Das andere Element ist der unbändige und von den anderen – außer Max – nicht durchschaubare Wille Jackies, ihrem bisherigen Leben zu entrinnen. Sie ist Angestellte bei einer kleinen Fluggesellschaft mit geringer Bezahlung und schlechten Zukunftsaussichten. Sie hat sich breitschlagen lassen, für Ordell Aufträge abzuwickeln, und sitzt nun sozusagen zwischen allen Stühlen. Sie ist 44, sieht blendend aus, aber was nützt ihr das schon für den Rest ihres Lebens – ohne Geld, ohne Perspektive, wenn Geld das einzige zu sein scheint, was noch eine Perspektive eröffnet?
Jackie Brown ist die Queen in ihrem eigenen Film. Tarantino feiert sie. Sie feiert sich, ohne dass dies aufgesetzt wirken würde. Sie setzt fast von Anfang an die Figuren in diesem Spiel – spätestens ab dem Zeitpunkt, als ihr bewusst geworden ist, das gleiche Schicksal wie Beaumont erleiden zu müssen. Sie ist klüger als alle anderen – und niemand ahnt etwas davon. Nur Max weiß Bescheid. Das berechtigte Misstrauen, dass Jackie gegenüber Ordell und der Polizei hegt, auch gegenüber Melanie, die ihrerseits Ordell mit Hilfe von Louis übers Ohr hauen will, korrespondiert mit einem absoluten Vertrauen zu Max, den sie gerade erst kennen gelernt hat, mit dem sie aber praktisch von Anfang an eine Nähe verbindet, die ohne große Worte auskommt. Die Charakterzüge der anderen Beteiligten des Sextetts – Ordell, Louis, Melanie und Nicolette – werden ihnen zum Verhängnis. Ordell, der ruchlose Waffenhändler, der alles per Waffe statt Intelligenz aus dem Weg räumt, was den Zugriff auf seine 500.000 Dollar gefährdet, scheitert an der Fehleinschätzung nicht nur Jackies, die ihr nie und nimmer für intelligenter gehalten hätte als sich selbst. Er scheitert auch an seinem gelangweilten, müden Freund Louis, der ihn hintergehen würde, ohne mit der Wimper zu zucken, dieser Langweiler, den Ordell voll quatscht, um Ablenkung zu haben. Als er ihn mit zwei Schüssen im Auto tötet, sagt er zu ihm: „What the fuck happened to you, man?“ Ordell ist maßlos enttäuscht. Nicht nur, dass Louis Melanie erschossen hat, weil deren Gequatsche ihm auf die Nerven ging, nicht nur, dass er lediglich mit 40.000 Dollar statt einer halben Millionen erscheint, zu allem Überfluss erzählt Louis auch noch, dass er Max im Kaufhaus gesehen hatte, wo die Geldübergabe stattfand und sich nichts dabei gedacht habe. Das ist sein Todesurteil. Billiges Mordmotiv plus Dummheit, das ist zu viel für Ordell, schlimmer als ein Handlanger wie Beaumont. Der Mord an Louis ist allerdings zugleich der Beginn des Scheiterns von Ordell.
In „Jackie Brown“ wird schrecklich abgestraft. Louis muss büßen, vorher schon Beaumont, Melanie, die sich für schlau hält, bringt ihr Gequatsche den Tod, und Ordell wird Jackie zum Verhängnis. Tarantino zeigt die drei Morde und die Erschießung Ordells durch die Polizisten – im Gegensatz zu seinen früheren Filmen – aus einer unglaublichen Distanz. Kaum Blut. Vom Mord an Beaumont sieht man nur zwei blitzende Schüsse im Dunkeln. Den Mord an Louis betrachtet Tarantino einerseits vom Rücksitz des VW-Busses, in dem Louis und Ordell sitzen, und dann von außen, aus zig Meter Entfernung. Nur ein paar Blutspritzer an der Windschutzscheibe deuten auf Louis Tod. Sein Gesicht ist nicht oder kaum zu sehen, nur sein leichtes Zucken. Als Louis Melanie erschießt, sieht man lediglich ihn, wie er schießt. Dafür sind zwei andere Aufnahmen zentral für den Ablauf der Handlung. Der cool wirkende und handelnde, aber innerlich zerrissene Max, der von seinem Job eigentlich schon lange die Schnauze voll hat, schaut am Ende mit einer fast unerträglichen Wehmut Jackie Brown nach, die im „geliehenen“ Mercedes von Ordell zum Flughafen fährt, um mit dem Geld in Spanien neu anzufangen. Max ist an einem Punkt, an dem ihm bewusst wird, dass sein Leben so bleiben wird, wie es war und wie es ist. Ein Leben lang wird er Kautionssteller sein. Die andere Szene: Großaufnahme von Jackie im Mercedes. Beide Szenen drücken die Labilität und Widersprüchlichkeit der ganzen Situation aus. „Man“ hat gesiegt. Ordell ist tot. Die Polizei zufrieden. Max bleibt, was er ist. Jackie hat das Geld und jagt ihrem Traum vom neuen Leben nach. Max ist nicht in der Lage mitzufahren, obwohl Jackie ihn gefragt hatte, ob er mitkommt.
Jackie in der Anfangsszene, eine Frau, die noch nicht weiß, wie ihr Leben weitergehen soll. Am Schluss sitzt Pam Grier fast mit dem gleichen Gesicht und viel Geld in der Tasche im Auto von Ordell. Max ist der eigentliche Verlierer in dem Kartenspiel. Für Jackie war er der Joker. Man kann darüber spekulieren, warum er nicht mit Jackie geht. Vielleicht ist es Mutlosigkeit. An einer Stelle fragt Jackie Max, wie er mit dem Alter fertig werde. Vielleicht zweifelt Max, der Jackie ohne zu zögern geholfen hat, ohne dass sie darauf reagiert hätte, aber auch daran, dass beide ein Paar werden könnten. Vielleicht steckt in Max die tiefe Einsicht, dass beide trotz ihrer Zuneigung oder – was Jackie betrifft – zumindest einem Gefühl davon, was Zuneigung sein könnte, dass er aus seinem Trott nicht mehr herauskommt und Jackie das Geld über das Vertrauen stellt, das sie ihm zweifellos entgegengebracht hat, das heißt die Bedeutung dieses Vertrauens gar nicht bemessen kann. Die Szene im Warenhaus, wo der entscheidende Geldaustausch – der Betrug Jackies sowohl an Ordell wie der Polizei – stattfindet, ein relativ uninteressanter, wenn auch effektvoller Coup, zeigt Tarantino gleich dreimal: aus der Perspektive Jackies, Louis / Melanies und Max Cherrys. Tarantino zieht hier eine zwar für die Handlung entscheidende, aber doch dramaturgisch nicht sehr interessante Szene völlig in die Länge. Auch dies erscheint wie die völlig zurückhaltend inszenierten Morde als ein Kontrapunkt zu seinen früheren Filmen. Der Geduld des Publikums wird einiges abverlangt. Aber genau diese Szene zeigt eben die unterschiedliche Sichtweise und Lebensperspektive der Agierenden.
„Jackie Brown“ ist eine Art Kontrapunkt. In gewisser Weise ist der Film ein „Betrug“, weil er Tarantinos bisherige Arbeiten in vielen Punkten gnadenlos entzaubert, so, wie „Pulp Fiction“ „Reservoir Dogs“ oder „From Dusk Till Dawn“ anderes entzauberten. „Jackie Brown“ ist gegen den Strich dieser Filme gedreht, obwohl es – insbesondere in der Figur Ordells und in Samuel L. Jackson – durchaus Bezugspunkte gibt. Man sehe sich diesen Robert de Niro an, diesen lahmarschigen, genervten, sich fast ständig im Halbschlaf befindenden, extrem langsam denkenden (wenn überhaupt denkenden) Louis, eine Rolle die sogar dem Bild de Niros in anderen Filmen völlig entgegenarbeitet. Die eigentliche Handlung ist trivial, wenn auch genial, was den Plan einer Stewardess betrifft, den sie gnadenlos und konsequent verfolgt. Es ist ihre Inszenierung. Andererseits enthält der Film nicht nur unterschwellig einen roten Faden des gnadenlosen Scheiterns in einer gnadenlosen Welt. Bis auf Jackie. Sie entkommt nach Spanien. Mit was fängt sie dort an außer mit etwas mehr als 400.000 Dollar? Sie ist intelligent. Also wird ihr was einfallen. Solche Spekulationen fördert der Film, weil er ganz auf die Hauptfigur zugeschnitten ist. Er fördert damit einen Funken Hoffnung, die Hoffnung auf eine Nische, eine Perspektive.
„Betrug“ ist der Film jedoch auch, weil er von einem Bild ausgeht, dem Bild der 70er Jahre in Los Angeles (oder wo auch immer), von einer Kultur, wie man sie sich vorstellt, und den Figuren und dem Verhalten, wie man sie sich vorstellt. In vielen Nuancen erinnert „Jackie Brown“ an Filme aus diesem Jahrzehnt, an Kriminalfilme, allerdings auch hier wieder einen Gegensatz setzend: „Jackie Brown“ ist an Action arm, konzentriert sich auf die Personen, nicht auf rasante Handlung. Die Kaufhausszene ist der Höhepunkt dieser extremen Langsamkeit, fast Behäbigkeit. Aber das darf man nicht mit Langeweile verwechseln. In den Details und Nuancen des Films offenbart sich erst seine Stärke – mit einer grandiosen Pam Grier, einem gewohnt exzellenten Samuel L. Jackson, einem Robert de Niro, der gegen seine üblichen Rollen spielt, einem Robert Forster, wie ich ihn immer wieder sehen könnte, und last but not least einer Bridget Fonda, die die ganz Zeit über high zu sein scheint.