Lange bevor Regisseur Ang Lee mit der Comic-Verfilmung „Hulk“ 2003 das kostspieligste Missverständnis des Jahres ablieferte, verdiente er sich 1997 internationale Anerkennung bei den Kritikern. Sein ernüchterndes 70er-Jahre-Porträt „Der Eissturm“ besticht durch das superbe Spiel seiner exzellenten Darstellerriege und durch Lees feines Gespür für die Eigenheiten der amerikanischen Gesellschaft in den 70ern.
Bei der Familie Hood hängt der Haussegen schief. Weil Ben (Kevin Kline) von seiner Frau Elena (Joan Allen) sexuell nur noch ignoriert wird, hat er ein Verhältnis mit seiner Nachbarin, der ebenfalls verheirateten Janey (Sigourney Weaver), begonnen. Sie ist gelangweilt, weil ihr Mann Jim (Jamey Sheridan) zu selten zu Hause ist und so sucht sie Abwechslung bei Ben. Bens frühreife 14-jährige Tochter Wendy (Christian Ricci) verbringt ebenfalls viel Zeit in Janeys Haus. Sie macht zunächst mit Janeys Sohn Mickey (Elijah Wood) und später auch mit dessen jüngerem Bruder Sandy (Adam Hann-Byrd) erste sexuelle Erfahrungen. Zu Thanksgiving möchte Paul (Tobey Maguire), Wendys älterer Bruder, bei der hübschen Libbets (Katie Holmes) landen. Sie hat ihn zu sich in die New Yorker Luxuswohnung ihrer verreisten Eltern eingeladen. Während dessen eskaliert die Situation im Hause Hood. Elena spürt, dass ihr Mann sie betrügt, weiß aber nicht genau, wie sie reagieren soll. Als in der Thanksgivingnacht ein Eissturm heraufzieht, muss erst ein Unglück geschehen, damit alle zum Nachdenken kommen...
Als sich Ang Lee an sein Gesellschafts-Drama „Der Eissturm“ machte, war der Taiwanese in den USA kein Unbekannter mehr. Seine in der Heimat gedrehten Werke „Das Hochzeitbankett“ (1993) und „Eat Drink Man Woman“ (1994) hatte auch Hollywood zur Kenntnis genommen, der Durchbruch gelang ihm dann mit dem Historien-Drama „Sinn und Sinnlichkeit“ (1996). Was jedoch trotzdem auf den ersten Blick verwundert, ist die Tatsache, dass ausgerechnet ein Nicht-Amerikaner eines der stilsichersten und treffendsten Porträts über das amerikanische Befinden der 70er gelingt. Andererseits war es mit Sam Mendes auch ein Brite, der der US-Gesellschaft in seiner grandiosen Vorstadt-Satire „American Beauty“ schonungslos und brillant den Spiegel vors Gesicht hielt.
Nach dem Roman von Rick Moody schuf Lees Hauschreiber James Schamus („Hulk“, „Das Hochzeitsbankett“, „Eat Drink Man Woman“) ein pointiertes, teils verstörend direktes Drehbuch. Hervorragend herausgearbeitete Charaktere erschaffen in ihrem Zusammenwirken ein scharfes Abbild des Nixon-Amerika. Der perfekt besetzte Cast hat jede Menge Gelegenheiten, sich auszuzeichnen. Kevin Kline („In & Out“, „Dave“, Ein Fisch namens Wanda“) darf zur Abwechslung zeigen, dass er auch ein ausgezeichneter Charakterdarsteller sein kann. Er gibt seinem wankenden, suchenden, verwirrten Familienvater Tiefe. In der gleichen Liga etablierte sich Ex-Kinderstar Christina Ricci („Die Addams Family“), die sich als heimliche Größe des Films hervor tut. Als sexuell experimentierende frühreife Göre liefert sie eine starke Vorstellung ab. Die restliche Besetzung fällt dagegen kaum ab. Tobey „Spider-Man“ Maguire („Wonder Boys“) deutet sein außergewöhnliches Talent als schüchterner Paul bereits an, Joan Allen („Thirteen Days“, „Face/Off“) überzeugt als gefrustete Ehefrau, während Pendant Sigourney Weaver („Alien“) macht, was sie will. Auch Adam Hann-Byrd („Halloween H20“) als leicht gestörter Spross Sandy und Elijah „Frodo“ Wood bekommen ihre Szenen, um zu überzeugen.
Offene sexuelle Freizügigkeit kennzeichnet das Amerika der 70er Jahre, AIDS war noch kein Thema. Bei so genannten Schlüsselpartys werden schnell mal die Partner getauscht, aber Befriedigung erlangt dadurch kaum einer. Als sich Joan Allen beim legitimierten Seitensprung revanchieren will, endet die Szene in einem emotionalen Desaster. Weil Kevin Kline zuvor von seiner Geliebten Sigourney Weaver ignoriert wird, und sie mit einem Jüngeren abzieht, bricht bei ihm der totale Frust aus. Während seine Frau versucht, ihn zu betrügen, hängt er bewusstlos gesoffen auf dem Badezimmmerfußboden herum - eine Sequenz von ungeheurer emotionaler Wucht.
Das alles hätte leicht zu einer moralischen, moralinsauren Nummer verkommen können. Doch daran war Lee überhaupt nicht gelegen. Er verurteilt niemanden, er beobachtet nur. Urteile über die Handlungen der Charaktere muss das Publikum selbst treffen. Lee begleitet mit seinem geschärften Blick lediglich ihren Werdegang. So ist „Der Eissturm“ in seiner Summe ein kleines, stilles Meisterwerk, das sich nicht durch übertriebene Gesten und aufdringliches Schauspiel auszeichnet, sondern präzise und gemächlich den Zuschauer in seinen Bann zieht.