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    The Verdict
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    The Verdict
    Von Ulrich Behrens

    Er trinkt. Mit jedem Schluck Whisky ein Stück Leid – hinunter damit. Weg damit. Er spielt. Flipper – die einzige Möglichkeit, noch etwas im Leben zu gewinnen. Manchmal. Dann kippt er wieder. Er geht auf Trauerfeiern reicher Hinterbliebener, täuscht vor, ein Freund der Verstorbenen zu sein und hinterlässt seine Visitenkarte. Er ist nämlich Anwalt – oder das, was von einem Anwalt noch übrig geblieben ist. Er hofft, dass er Erbschaften regeln kann. Ohne Erfolg. Er trinkt wieder. Und er ertrinkt – seit Jahren – in Selbstmitleid. Frank Galvin (Paul Newman) ist ein Anwalt, der keiner mehr ist. Einsam.

    Sidney Lumet (Die 12 Geschworenen, 1957; Serpico, 1973; Hundstage, 1975; Network, 1976) inszenierte 1982 die Geschichte dieses Trinkers. Und „The Verdict” ist sowohl eine Studie über diesen Frank Galvin, als auch ein Gerichtsthriller, als auch ein Versuch über ein (manchmal jedenfalls) erbärmliches Gewerbe: die Jurisprudenz. Sein Konkurrent, der reiche Anwalt Ed Concannon (James Mason) bringt es einmal auf den Punkt. Als junger Anwalt sei er von seinem Vorgesetzten gefragt worden, wie sein erster Prozess gewesen sei. Er habe geantwortet, er habe sein Bestes gegeben. Der Vorgesetzte habe geantwortet: Er solle nicht sein Bestes geben, sondern unter allen Umständen gewinnen. Und das habe er, Concannon, sich ab diesem Zeitpunkt gut gemerkt. Der Gewinn eines Prozesses sei die Voraussetzung, um an Geld zu kommen, damit die Erzdiözese – für die er arbeitet – einen Teil des Geldes dafür verwenden könne, den Armen zu helfen. Und nur so sei es möglich, durch die prozessualen Erfolge auch den Lebensstandard zu halten, den er sich erkämpft habe.

    Unter allen Umständen gewinnen – mit allen Mitteln.

    Paul Newman spielt einen heruntergekommenen Anwalt, der vor Jahren unter dem Vorwand, Geschworene beeinflusst zu haben, fast seine Zulassung verloren hätte. Er flog aus der Sozietät, seine Frau, die Tochter eines der Sozien, ließ sich scheiden – und seitdem trinkt der Mann, und spielt und trinkt. Nur einer hält zu Galvin, sein Kollege Mickey Morrissey (Jack Warden), bei dem er das Handwerk des Rechtsanwalts erlernt hatte. Mickey, der den psychischen und physischen Verfall Galvins kaum noch ertragen kann, verschafft ihm einen neuen Fall. Die junge Deborah Ann Kaye liegt im Koma. Während der Operation traten Komplikationen auf. Man fand Erbrochenes in ihrem Mund. Die Sauerstoffzufuhr zu ihrem Gehirn wurde unterbrochen. Sie wachte nicht wieder auf. Ihre Schwester Sally Doneghy (Roxanne Hart) und deren Mann Kevin (James Handy) wollen sich mit den verantwortlichen Ärzten Dr. Towler (Wesley Addy) und Dr. Marx, dem Krankenhaus und der Erzdiözese, der das Hospital gehört, vergleichen.

    Mickey hat alle Mühe, Galvin wieder hochzurappeln. Er will, dass er den Fall übernimmt und mit dem Bischof (Ed Binns) und Concannon samt seinem guten Dutzend Anwälten einen Vergleich aushandelt. Als Galvin allerdings bei einem Gespräch mit Dr. Gruber (Lewis J. Stadlen) erfährt, dass Dr. Marx und Dr. Towler – zwei über das Land hinaus anerkannte Ärzte – Pfusch getrieben, eine falsche Narkose verabreicht hätten, ist Galvin entschlossen zu prozessieren – zumal sich Gruber als Sachverständiger zur Verfügung stellen will…

    „The Verdict” ist einer der ruhigsten, „langsamsten”, fast könnte man sagen: bedächtigsten Filme, die je über die Leinwand geflimmert sind. Selbst die Musik setzt Lumet nur sehr spärlich ein, große Passagen des Films kommen völlig ohne Musik aus. Immer wieder scheint die Handlung zu stocken, folgen Szenen, in denen die Stille regiert. Und trotzdem steckt in dieser Art der Inszenierung ein explosives Gemisch aus spannendem Gerichtsdrama und ebenso spannendem Psychogramm. Lumet setzt bewusst auf den Einsatz von Licht und Schatten, ungewöhnliche Kameraperspektiven, vor allem aber auf grandiose schauspielerische Leistungen. Paul Newman, Charlotte Rampling, aber auch Jack Warden und James Mason und die supporting parts kreieren ein intensives Spiel um Betrug und Täuschung, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, und bei alldem werden einige Mechanismen (nicht nur) des Justizsystems bloß gelegt – im Vergleich zu anderen Gerichtsdramen wesentlich effektiver.

    So spielt Mason einen durch Geld, die Unterstützung der Kirche und der Öffentlichkeit mächtigen Anwalt, der sich nicht scheut, hinter den Kulissen mit Korruption die Richtung des Prozesses zu manipulieren. Selbst vor dem Einsatz eines Spions scheut er nicht zurück, um die Taktik Galvins auszukundschaften. Auch die Erzdiözese kommt nicht besonders gut weg. Der Bischof will alles daran setzen, um „sein” Krankenhaus nicht in ein schlechtes Licht rücken zu lassen.

    Im Mittelpunkt der Geschichte aber steht Frank Galvin, Paul Newman in einer seiner sicherlich besten Rollen. Der Trinker Galvin, der anfangs (erfolglos) nicht anders operiert als sein Gegenüber Concannon, wandelt sich in einem schwierigen Prozess langsam vom Saulus zum Paulus. Er hintergeht seine Mandanten, um über einen Prozess noch mehr Geld herauszuschlagen – zunächst ausschließlich aus einem Grund: Sein Honorar würde höher ausfallen als 70.000 Dollar.

    Und dann kommt dieser Moment, Gavin schein am Ende, als er am Boden liegt, als ihm in seiner Praxis fast der Atem wegbleibt, als er – als Laura ihn als Versager beschimpft, weil er aufgeben will, hyperventiliert – dieser Moment, der sein bisheriges Leben verändert. Er beginnt wieder zu kämpfen. Er trinkt weiter, er spielt weiter, aber das Feld, auf dem er jetzt hauptsächlich arbeitet, ist der Kampf um den Prozess. Es ist nicht mehr das Geld, es ist nicht mehr der Betrug, die Täuschung, nein, es ist der Wille, den Prozess zu gewinnen – um Deborah Ann Kayes und der Doneghys Willen. Irgend etwas hat sich in Galvin gerührt, etwas, was er von früher noch kennt, etwas, was in ihm verschüttet war und nun wieder hervorgekrochen ist. Galvin kämpft – aus fast aussichtsloser Situation heraus. Es ist das, was da hervorkommt, was er Laura gegenüber, die auch trinkt, gesagt hatte. Einen Prozess zu führen, garantiere keine Gerechtigkeit, aber biete die Chance auf Gerechtigkeit. Er will diese Chance für die im Koma liegende, vor allem aber für die Doneghys – und für sich selbst.

    Dieser innere Kampf mit sich selbst, diese zunächst schwache Erinnerung an all das, warum Galvin Anwalt geworden war, kommt nun hoch. Und je mehr er dies nach außen kehrt, umso deutlicher werden die Unterschiede zwischen ihm und der Mentalität Concannons. Galvin geht noch weiter. Er beschimpft Richter Hoyle – mehr oder weniger deutlich wegen dessen Parteinahme für Concannon.

    „The Verdict” spielt im Gerichtssaal, in Galvins Praxis, in der Erzdiözese, im Krankenhaus, in Concannons Praxis, in Bars und auf der Straße. Aber eigentlich spielt der Film im Innenleben Galvins, das wir als Zuschauer gut beobachten können. Die Geschichte scheidet Wahrhaftigkeit von Täuschung, Suche nach Gerechtigkeit von Macht- und Geldgier. In einer Szene beschimpft Schwester Rooney Galvin und alle Anwälte als Huren, die sich verkauft hätten, denen es nur um Geld gehe. Galvin verzichtet auf ihre Ladung als Zeugin. Aber dieser Vorwurf gibt ihm mächtig zu denken – weniger über seinen Konkurrenten und die ganze Zunft, als über sich selbst und sein bisheriges Leben.

    Lumet gelang mit „The Verdict” ein in jeder Hinsicht herausragender Klassiker, der melodramatische Züge trägt, diese aber nicht ausufern lässt. Lumet bleibt auf einer realistischen Linie.

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