Der Phantasie sind keine Grenzen gesteckt, vor allem nicht beim urmenschlichen Streben nach der Transzendierung eigener Grenzen, dem Griff nach Außergewöhnlichem. Ein sprichwörtlicher Drahtseilakt zwischen Wolkenkratzern (Man On Wire) oder die Besteigung von zwei Achttausendern in einem Rutsch (Gasherbrum - Der leuchtende Berg) – das sind nicht nur polarisierende Unternehmen, sondern auch perfekte Stoffe für einen Dokumentarfilm. Vielleicht gerade, weil der Dokufilm hier ebenfalls an seine Grenzen stößt: Während die betörende Physis noch abbildbar bleibt, ist es die Suche nach der Innerlichkeit derartiger Grenzgänge, deren Erfassung das Medium per se nur näherungsweise vollbringen kann. So auch in Erica von Moellers „Fräulein Stinnes fährt um die Welt“, einer Reise nicht ganz auf den Spuren Phileas Foggs. Denn anders als der Protagonist aus Jules Vernes Roman „In 80 Tagen um die Welt“ gibt sich Frau Stinnes mit rund zwei Jahren zufrieden. Dafür aber bestreitet sie ihre Weltumrundung mit einem Automobil. Von Moeller erzählt nicht nur von einer extravaganten Frau, sondern spielt zwischen historischen Archivaufnahmen und langen Spielfilmsequenzen fordernd mit dem Wahrnehmungsradius des Dokumentarfilms.
Deutschland, 1927: Die Industriellentochter Clärenore Stinnes (Sandra Hüller, Requiem, Der Architekt) ist 26 Jahre alt und nicht bereit, sich mit der restriktiven Frauenrolle ihrer Zeit abzufinden. Mit einer Karriere als Rennfahrerin hatte sie sich ein so starkes Profil erkämpft, dass Stummfilmlegende Friedrich Wilhelm Murnau (Nosferatu, eine Symphonie des Grauens) sie als Idealbesetzung für die Johanna von Orléans bezeichnete. Dann endlich sichert ihr die Direktion der Adler-Autowerke einen Standard 6 zu. Mit 100.000 in der Industrie eingeworbenen Reichsmark, zwei Technikern und dem schwedischen Kameramann Carl-Axel Söderström (Bjarne Henriksen, Das Fest) setzt sie sich am 25. Mai in Frankfurt ans Steuer. 48.000 Kilometer Welt trennen Clärenore von der Berliner Zielgeraden...
Fräulein Stinnes fährt um die Welt, nicht aber durch Postkarten-Panoramen. Von Moeller konzentriert sich ganz auf den Kraftakt des waghalsigen Unternehmens – nicht aber, ohne der visuellen Erwartungshaltung über den als Erzähler auftretenden Söderström einen selbstbewussten Schuss vor den Bug zu versetzen. Der hält seine Reisegefährtin dazu an, dem Team Zeit und Raum zu lassen, um all die fremdartigen Gegenden wahrnehmen zu können. Clärenores Projekt aber ist kein Urlaub, sondern eine rastlose Mission. Von Moeller zeigt einen Kampf um jeden Kilometer, durch unwegsames Gelände, gegen unkooperative Autoritäten und ständige Wagenpannen. Gerade durch den Verzicht auf ästhetische Entlohnung gelingt der Regisseurin eine intensive Darstellung der Entbehrungen, die die beiden Techniker schon früh in die Flucht schlägt.
Durch die auf Tagebüchern basierende Perspektive Söderströms kommuniziert von Moeller mit ihrem Publikum. Etwa wenn sie ihn sinnieren lässt, wie Clärenore die Strapazen bloß so leicht wegstecken könne – bis er sie kurz darauf inmitten karger Salzwüsten weinend an eine Ruinenmauer gelehnt beobachtet. Aus respektvoller Distanz zeichnet von Moeller ein vorsichtiges Porträt einer starken Frau und läd die Spielszenen gekonnt dokumentarisch auf - der Film blickt auf die lesbare Oberfläche seines Subjekts, frei von der irreführenden Behauptung, den Aufruhr hinter der Fassade Clärenores abbilden zu können. Damit gelingt „Fräulein Stinnes fährt um die Welt“ eine aufrichtige Reflektion über die Unmöglichkeit der faktischen Darstellung von Innerlichkeit – und damit über die generellen Grenzen filmischer Dokumentation. Folgerichtig wird die größte Frage bloß angedeutet: Was hat Clärenore angetrieben?
Greifbar bleiben die Figuren zwischen Historizität und Interpretation dank Sandra Hüller und Bjarne Henriksen dennoch jederzeit. Besonders schön: Die beiden befreien ihr Spiel von jeder dramatischen Geste, so dass ihre Tour de Force nie sentimental verwässert wird. Henriksens Auftritt als gutmütiger Bär lädt zur Identifikation mit seiner Erzählerrolle ein und Hüllers kecker Gestus verleiht der durchsetzungsfähigen Frauenfigur Plausibilität. Dagegen stehen Archivaufnahmen Söderströms, die damals als Beweis der tatsächlichen Erdumrundung dienten und von der Regisseurin gewagt invertiert werden: Die körnigen Schwarz/Weiß-Fotografien unterstreichen die Authentizität der Spielszenen, obgleich sie artifizieller wirken und inhaltlich weniger transportieren. „Fräulein Stinnes fährt um die Welt“ ist damit eine Erzählung über gleich zwei Grenzgänge: die des Menschen auf der Suche nach Außergewöhnlichem, und die des nach seinen Möglichkeiten tastenden Dokumentarfilms.