Norton? Edward Norton? Nein, dieser Name war der Welt 1996 noch kein Begriff. Dann kam Gregory Hoblits Thriller „Zwielicht“ in die Kinos – und brachte dem Leinwand-Debütanten in der Rolle des Adam Stampler einen Golden Globe und eine Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller ein. Heute zählt Norton zu den gefragtesten Schauspielern Hollywoods. Warum? Weil er sich dank seiner überragenden Performance an der Seite von Richard Gere und Laura Linney für mehr empfehlen konnte – beispielsweise für seine späteren Glanzauftritte in American History X oder 25 Stunden. Die Rolle des verunsicherten, schüchternen Chorknaben Stampler ist dem damals 26-Jährigen wie auf den Leib geschnitten und wertet den Film, dessen Drehbuch ansonsten eher in der gehobenen Mittelklasse anzusiedeln ist, zu einem sehenswerten Thriller auf.
Als der Erzbischof von Chicago brutal ermordet aufgefunden wird, ist der vermeintliche Täter schnell gefunden: Ministrant Aaron Stampler (Edward Norton), der blutverschmiert in der Nähe des Tatorts von der Polizei gestellt werden kann, wird beschuldigt, den Geistlichen mit 72 Messerstichen getötet zu haben. Die Verteidigung des mittellosen Hauptverdächtigen übernimmt Star-Verteidiger Martin Vail (Richard Gere), der sofort die Möglichkeit wittert, sich angesichts der erdrückenden Beweislast in der Öffentlichkeit zu profilieren. Vor Gericht trifft er auf seine ehemalige Geliebte, die Staatsanwältin Janet Venable (Laura Linney). Vorerst nur am Prestige und nicht an der Schuldfrage interessiert, gerät Vail mehr und mehr in den Bann seines psychisch labilen Mandanten, weshalb er die Psychologin Dr. Molly Arrington (Frances McDormand) um Unterstützung bittet. Als diese in langen Einzelgesprächen Stamplers Jugend und die pädophilen Neigungen des ermordeten Bischofs ans Tageslicht bringt, nimmt der Fall eine entscheidende Wendung…
Man könnte „Zwielicht“ ohne weiteres als unterhaltsamen Justiz-Thriller bezeichnen; als einen soliden Film, der sich mit mehreren geschickten Wendungen leicht vom Durchschnitt abheben kann. Mehr aber auch nicht. Wäre da mit Adam Stampler nicht eine Figur, aus der „Zwielicht“ den Großteil seines Reizes zieht. Brillant verkörpert von einem Hollywood-Greenhorn, das bei seinem Debüt Frauenschwarm Richard Gere buchstäblich an die Wand seines Verhörzimmers spielt. Nortons unterwürfigen, scheuen Blicke bei den Gesprächen in der Gefängniszelle, das angestrengte Stottern, das pubertäre Rumdrucksen bei der Frage nach einer Sexualpartnerin – all dies rundet die jugendliche Unschuld seines knabenhaften Gesichts perfekt ab. Problem dabei: Eigentliches Aushängeschild des Films soll natürlich Richard Gere (Untreu, Das Lächeln der Sterne) sein, der folglich die mit Abstand größte Kamerapräsenz genießt.
Martin Vail ist der Prototyp eines karrieregeilen Anwalts, den die Frage nach Schuld oder Unschuld nicht interessiert, solange der Fall auf den Titelseiten landet. Die einzige Wahrheit ist die, die die Geschworenen überzeugt und die eigene Karriere voranbringt. Gere erweist sich als durchaus gute Wahl, ihm gelingt es jederzeit, dem knallharten Verteidiger Glaubwürdigkeit zu verleihen. Anders als Stampler, zu dessen gestörter Psyche der Zuschauer nur langsam Zugang gewinnt, bleibt Vails Charakter aber stets ausrechenbar.
So macht den Reiz der Handlung insbesondere die Frage aus, wer wirklich hinter Adam Stampler steckt. Dieser hilflose, stotternde Messdiener soll ein brutaler Killer sein? Kaum vorstellbar. Auch nicht für Staranwalt Vail, der den Beteuerungen seines Mandanten immer größeren Glauben schenkt, obwohl er in dem Chorknaben anfangs nur willkommenes Rampenlicht sieht. Anstatt sich nun aber intensiv mit dem mutmaßlichen Bischofsmörder auseinanderzusetzen, eröffnet der Film zahlreiche Nebenkriegsschauplätze. Dadurch wird das Tempo im Mittelteil des Films, in dem die Verhöre Stampler in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen, unnötig verschleppt. Insbesondere die dunklen Machenschaften von Generalstaatsanwalt John Shaughnessy (John Mahoney) und damit einhergehende Intrigen in höheren Gesellschaftskreisen bringen den Hauptstrang der Handlung – den Prozess gegen Vails Mandanten – kaum voran. Spannender wäre hier eine intensive Beleuchtung von Stamplers Psyche und seiner Vergangenheit gewesen, über die das Publikum lediglich das erfährt, was der Verteidiger und die engagierte Psychologin Arrington (Frances McDormand, Fargo, Kaltes Land) bröckchenweise aus ihm herauskitzeln. Stattdessen konzentriert sich das Drehbuch vorwiegend auf Vails Ermittlerteam und die juristischen Winkelzüge einer Staranwaltskanzlei.
Ebenso entbehrlich sind die relativ lieblos in den Plot eingeflochtenen Annäherungsversuche von Vail an seine Ex-Geliebte Janet Venable (Laura Linney, Die Truman Show, Die Geschwister Savage). Zu begründen sind diese vermutlich mit Zugeständnissen an das weibliche Publikum, das Richard Gere noch aus „Ein Offizier und Gentleman“ und Pretty Woman in Erinnerung hat. Wenn Vail seiner eigentlichen Kontrahentin den Nacken küsst und sie im Richterzimmer um einen Tanz bittet, ist der an der nahenden Auflösung interessierte Zuschauer fast froh, wenn Venable entschieden ablehnt.
„Zwielicht“ braucht lange, um richtig in Fahrt zu kommen, gipfelt aber schließlich in einem starken Finale. Die hervorragende Schlusspointe, die an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden soll, macht große Teile des schleppenden Auftakts wieder wett. Am Ende steht die Frage nach Schuld und Unschuld, nach Moral und Gewissen mehr denn je im Mittelpunkt. Dennoch würde man sich wünschen, der Film wäre diesen Fragen etwas konsequenter nachgegangen, anstatt seine interessanteste Figur hier und da ein wenig aus den Augen zu verlieren.