Vergangenheitsbewältigung einmal ganz anders. Mit seinem dritten Spielfilm, dem leisen, eigentlich ganz und gar undramatischen Krimidrama „Im nächsten Leben“, greift der Filmemacher Marco Mittelstaedt eines der großen Themen unserer Zeit auf. In ruhigen Bildern spürt er den Veränderungen nach, die der Fall der Mauer im Jahr 1989 und die darauffolgende Wiedervereinigung im Leben der Bürger der DDR nach sich gezogen haben. Bisher waren es vor allem Komödien wie Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin! oder Peter Timms „Der Zimmerspringbrunnen“, die im deutschen Kino nach den Folgen der Wende für die Menschen gefragt haben. Schließlich lieferten die Begleitumstände der Vereinigung auch genügend Stoff für absurde Situationen und ironische Schelmenstücke. Währenddessen hat sich das deutsche Fernsehen eher auf die großen Dramen mit ihren großen Täter-/Opfer-Schicksalen und ihren überlebensgroßen Emotionen kapriziert. Aber es gibt eben auch noch einen Mittelweg zwischen diesen Extremen. Und den ist Marco Mittelstaedt mit seiner fragenden, keinerlei Gewissheiten bereithaltenden Annäherung an einen Menschen gegangen, dessen Leben auch 20 Jahre später noch von den Entscheidungen geprägt wird, die er einst zu Zeiten der DDR getroffen hat.
Seit 1989 arbeitet der Fotograf und Journalist Wolfgang Kerber (Edgar Selge, Im Schwitzkasten, Das Experiment) als Polizeireporter für das Berliner Blatt, eine Boulevardzeitung, deren Macher immer auf den nächsten „Riesen“, die nächste Sensation, warten. Gleich nach dem Fall der Mauer hatte sich der von Erich Honnecker geschätzte und mit allen erdenklichen Privilegien ausgestattete Sportfotograf für eine neue Karriere entschieden. Eine Zeit lang lief es recht gut, doch mittlerweile hat Kerber den Anschluss verloren. Seine Geschichten treffen einfach nicht den sensationalistischen Ton, den sein viel jüngerer Chefredakteur fordert. Außerdem sind seine Spesenabrechnungen viel zu hoch. Nur eine ganz große Sache könnte Kerber nun noch retten. Und die glaubt er, gefunden zu haben, als er hört, dass in der Kleinstadt Wolfen, in der seine Tochter Margitta (Anja Schneider, Ferien) als Lehrerin arbeitet, eine 15-jährige Schülerin vermisst gemeldet wurde.
Das Vorbild für diesen Journalisten, der eigentlich immer nur Karriere machen wollte und sich aus der Politik so weit wie möglich heraushält, ist Marco Mittelstaedts eigener Vater. Auch der war einst ein berühmter Sportfotograf, der zu allen Großereignissen in den Westen reisen durfte. Doch nach dem 9. November 1989 hat er seinen Posten als Cheffotograf der DDR-Nachrichtenagentur ADN umgehend verlassen und sich gen Westen orientiert. Dort war er dann – wie Marco Mittelstaedt in einem in den Pressematerialien zu „Im nächsten Leben“ veröffentlichten Text schreibt – „als Polizeireporter für Deutschlands größte Boulevardzeitung“ tätig. Für seinen damals 17-jährigen Sohn war dieser Schritt unbegreiflich und kam praktisch einem Verrat gleich.
Mittlerweile denkt Mittelstaedt allerdings, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, „etwas differenzierter“ über seinen Vater. Sein Film ist ohne Frage auch der Versuch einer persönlichen Vergangenheitsbewältigung, einer Klärung all der Fragen, die ihn damals, 1989, beschäftigt haben. Trotzdem ist „Im nächsten Leben“ kein Schlüsselfilm. Über den Umweg der Fiktion ist es Marco Mittelstaedt nicht gelungen, eigene Dämonen zu bekämpfen. Er hat auch zu einer letztlich allgemeingültigen Form gefunden, einen neuen, von allen Vorurteilen befreiten Blick auf ein immer noch andauerndes Kapitel deutscher Geschichte eröffnet. Wolfgang Kerbers Geschichte ist zuallererst ein familiäres Drama, das indes nachhaltig vom Lauf der historischen Ereignisse geprägt wurde. Allerdings lastet der Krebstod seiner Frau Silke und die mit ihm verknüpften gegenseitigen Schuldvorwürfe viel schwerer auf der Beziehung zwischen Kerber und seiner Tochter als seine Entscheidung für ein neues Leben im wiedervereinigten Deutschland.
Aber nicht nur Marco Mittelstaedt hat es sich mit seinem Verzicht auf simple Schwarzweiß-Malerei und klare Zuweisungen von Täter- und Opferrollen alles andere als einfach gemacht. Auch Edgar Selge ist keinerlei Kompromisse eingegangen. Er versucht nicht einen Augenblick lang, die Sympathien des Publikums auf Wolfgang Kerbers Seite zu ziehen. Im Gegenteil: Von Anfang an gibt es keinerlei Zweifel an dessen schon an Arroganz grenzender Egozentrik. Im Grunde seines Herzens ist er zwar einer der letzten Aufrechten unter den heutigen Boulevardjournalisten. Zumindest hat er noch ein gewisses Berufsethos und den Glauben, etwas zu tun, das den Menschen hilft. Aber letztlich ist er so berauscht von seinen Idealen und Überzeugungen, dass er für alles andere blind zu sein scheint. Seine Komplexität – im Namen seiner Story scheut er auch vor kriminellen Handlungen nicht zurück – und innere Zerrissenheit, die Selge in seinem Spiel mit einer bewundernswerten analytischen Präzision zu Tage fördert, machen Kerber zu einer unvergesslichen Figur, die viel mehr über Deutschland vor und nach der Wende erzählt, als die meisten Ostalgie-Dramen und -Komödien zusammen.