Der Anti-Slumdog-Millionär von Netflix
Von Björn BecherMit seinem Debütroman „Der weiße Tiger“ landete der indische Schriftsteller und Journalist Aravind Adiga direkt einen Welterfolg, der zudem auch noch eine ganze Reihe von Preisen abräumen konnte. Die Anklage des indischen Kastensystems, das inzwischen eigentlich nur noch zwei Klassen – nämlich oben und unten, also arm und reich – kennt, ist ebenso schonungslos wie schwarzhumorig. Die größte Kontroverse gab es allerdings aufgrund der Hauptfigur: Balram Halwais ist ein China verehrender Killer.
Netflix liefert nun die längst überfällige Adaption – vorgenommen von Autor und Regisseur Ramin Bahrani („Fahrenheit 451“), einem engen Freund von Aravind Adiga. Sein Film ist nicht weniger böse, nicht weniger schonungslos – und deshalb durchaus schwierig: „Der weiße Tiger“ ist beißend zynisch, die Hauptfigur bisweilen ziemlich unsympathisch, mit ihrer Unterwürfigkeit oft schwer zu erdulden. Trotzdem überzeugt der radikale Gegenentwurf zu kitschigem Armuts-Erbauungskino à la „Slumdog Millionär“ - was vor allem an einem herausragenden Cast liegt.
Balram ist Fahrer und glaubt, den Aufstieg geschafft zu haben.
Weil der chinesische Ministerpräsident in Kürze Indien besuchen und sich dort auch mit aufstrebenden lokalen Unternehmern treffen will, sitzt Balram Halwai (Adarsh Gourav) in seinem schicken Büro und formuliert eine E-Mail. Er selbst hält sich schließlich für den idealen Gesprächspartner für den Staatsgast – und fängt an, die Gründe zu erklären. So erzählt er rückblickend seine Lebensgeschichte, die in einem kleinen Dorf beginnt, in dem sich die Menschen totschuften, ohne dass sich jemals etwas ändern wird. Doch Balram ist schon als Kind entschlossen, diesem Schicksal zu entfliehen – und wird schließlich als „zweiter Fahrer“ beim vermögendsten Großgrundbesitzer der Gegend angestellt.
Offiziell soll er dort Ashok (Rajkummar Rao), den jüngeren Sohn seines Bosses, sowie dessen Frau Pinky (Priyanka Chopra) chauffieren. In Wahrheit verrichtet er aber alle möglichen niederen Arbeiten für die Familie, bei denen er sich bereitwillig immer wieder erniedrigen lässt. Nur Pinky, die in Amerika und damit fernab des indischen Kastensystems aufgewachsen ist, behandelt ihn mit etwas mehr Respekt. Trotzdem ist es noch ein weiter Weg zu dem Geschäftsmann, der zu Beginn des Films im schicken Büro sitzt und einen Steckbrief hat, der zeigt, dass Balram von der Polizei wegen Mordes gesucht wird…
Für seine Adaption hat Ramin Bahrani die Briefroman-Struktur der Vorlage beibehalten, bei der die Hauptfigur in einem langen Brief, den sie über mehrere Nächte einer Woche hinweg verfasst, ihre Lebensgeschichte erzählt. So hören wir immer wieder Balram, der hier nun eine E-Mail schreibt, aus dem Off, wie er nicht nur von sich selbst erzählt, sondern auch dem chinesischen Ministerpräsidenten immer wieder mit hochgestochenem Geschwafel seine Bewunderung ausdrückt.
So entsteht von Anfang an ein reizvoller Kontrast zwischen dem in feinem Zwirn gekleideten, selbstbewussten Mann mit kunstvollem Bart und seinem jüngeren, gebückt gehenden, immer wieder erniedrigten (und sich vor allem erniedrigen lassenden) Ich, das in seiner Rolle als Diener für seinen Meister voll aufgeht. Es ist eine herausragende Leistung von Newcomer Adarsh Gourav, wie er beide so vermeintlich gegensätzlichen Persönlichkeiten mit Leben füllt.
Balram wird mal wieder erniedrigt. Pinky fühlt sich schuldig.
Die Darstellung des Klassensystems ist dabei schonungslos und brutal. Der junge Balram hat es in seinen Augen geschafft, als er das Dorf, in dem sich sein Vater zu Tode arbeitete, endlich hinter sich lässt – doch in Wahrheit bleibt er weiterhin ein Sklave. Die „Meister“ haben alle Gewalt über ihre Diener. Immer wieder malt sich Balram aus, dass bei Versagen oder Befehlsverweigerung ein Tötungskommando zur Strafe sein ganzes Dorf hinrichtet. Fast schon unerträglich und schmerzhaft ist es aber, wie er sich in seine Rolle als Diener fügt, diese akzeptiert.
Am eindrucksvollsten ist die Schilderung dann jedoch, wenn sich die pervertierten Gegensätze ganz simpel aus den Bildern ergeben: Als Ashok und Pinky nach Delhi ziehen und dort in einem Luxushotel ihr Quartier einrichten, lernen wir gemeinsam mit Balram eine Parallelwelt in der Tiefgarage kennen: Hier hausen die Fahrer der Reichen unter erbärmlichen Zuständen…
Die Spannung wird dabei konsequent hochgehalten, weil es einfach keinen offensichtlichen Weg gibt, wie sich Balram – oder sonst jemand – aus der niederen Schicht herausarbeiten könnte. Er beweist zwar Ambitionen, greift sogar auf Erpressung zurück, um es vom zweiten zum ersten Fahrer zu schaffen - doch all das ändert nichts an seiner Stellung als Diener, die er ja in der Rahmenhandlung offenbar hinter sich gelassen hat. Ein Sieg bei „Wer wird Millionär?“ ist auch nicht zu erwarten, wie die Hauptfigur selbst schon früh erklärt. Einen solchen märchenhaften Aufstieg gibt es vielleicht im Buch oder im Film, aber ein Mensch aus den Slums kommt im wahren Leben nicht mal in die Nähe einer solchen Show…
Der Verweis auf „Slumdog Millionär“ ist vielleicht ein bisschen penetrant und es ist sicher auch kein Zufall, dass immer wieder Bilder eines Bahnhofs vorkommen. Schließlich hat ein solcher in Danny Boyles romantisiertem Indien-Blick eine wichtige Rolle gespielt. Trotzdem kann man „Der weiße Tiger“ sehr gut als Anti-„Slumdog Millionär“ beschreiben. Hier gibt es kein Wunder und auch keine Rettung von außen. Stattdessen wird die Hauptfigur eine abscheuliche Tat begehen müssen, um sich aus den Fesseln ihres Standes befreien zu können.
Wird Pinky Balram retten?
„Der weiße Tiger“ ist dabei konsequent düster – und offenbart nicht nur in seiner Zeichnung der offensichtlichen Bösewichte Abgründe: Ja, der Großgrundbesitzer und sein älterer Sohn erniedrigen Balram, wo sie nur können – aber Pinky und Ashok sind eigentlich keinen Deut besser: Sie geben sich zwar fortschrittlich, behandeln Balram eines Abends sogar wie einen Freund. Aber dann erniedrigen sie ihn doch – wie mit einem Streich, den sie ihm spielen, oder dem Sex, den sie beinahe im Auto haben, während er sie fährt…
Die längst auch in Hollywood erfolgreiche Priyanka Chopra Jonas („Quantico“, „Baywatch“) bewarb sich aktiv um eine Rolle und stieg sogar als Produzentin mit ein, als sie erfuhr, dass der von ihr geliebte Roman verfilmt werden soll. Gemeinsam mit Rajkummar Rao legt sie ohne jede falsche Eitelkeit die Verlogenheit des ach so weltoffenen Paares frei: Beide sind in Indien gefeierte Stars, die sonst immer nur positiv besetzt werden, meist (romantische) Heldenrollen spielen. Durch ihr direkt fühlbares Charisma umgibt ihre Figuren selbst für Nichtkenner direkt eine Retter-Aura. Sie sind die Hoffnung für den Protagonisten. Umso spitzer sind die kleinen Momente, in denen sie über Balram lachen, weil er zum Beispiel nicht weiß, was das Internet ist.
Wenn die Handlung Delhi erreicht, versucht Ramin Bahrani allerdings, immer mehr auch über das Schicksal der Hauptfigur hinaus zu erzählen – zum Beispiel über das korrupte indische System, wo sich die Reichen nur die Frage stellen, welche Partei sie mit welcher Summe schmieren müssen, um auch die Jahre nach der nächsten Wahl wieder völlige Steuerfreiheit zu genießen.
Solche Themen werden dann natürlich nur angerissen, ein bisschen ufert das Drama im Mittelteil zudem aus – und die am Ende noch einmal bildliche Erklärung des bereits am Anfang in Worten aufgeschlüsselten Filmtitels hätte es auch nicht gebraucht. Trotzdem sind das nur kleine Schwächen in einem ganz überwiegend überzeugend starken Drama.
Fazit: „Der weiße Tiger“ ist böse und eindringlich, brutal und intensiv – ein Volltreffer für den Streamingdienst, der zwar gerade einen harten Expansionskurs in Indien fährt, sich deshalb aber trotzdem nicht davor scheut, eine solche knallharte Kastenabrechnung rauszuhauen.