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    Our Day Will Come
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Our Day Will Come
    Von Robert Cherkowski

    Musikvideos sind für angehende Filmemacher eine ideale Schule. Bevor es an abendfüllende Spielfilme geht, kann man hier den Umgang mit großen Summen und großen Egos üben und sich eine eigene Handschrift erarbeiten. So machten es unter anderem David Fincher, Mark Romanek („One Hour Photo"), Spike Jonze („Being John Malkovich") und Michael Bay. Schon diese Regisseure drehten oftmals Clips, deren visuelle Gestaltung mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als die Musik der Künstler, um die es eigentlich gehen sollte. Mit dieser Methode sorgte auch Romain Gavras für Furore und avancierte mit seinen Clips zu „Stress" von Justice oder zu M.I.A.s „Born Free" zum Enfant terrible der Musikvideo-Szene. Egal ob bei ihm Jugendgangs in Vororten von Paris randalieren oder in den USA Rothaarige gejagt und ermordet werden – um einen Skandal war Gavras nie verlegen. So waren die Hoffnungen groß, dass er sich mit seinem bereits 2010 entstandenen Langfilmdebüt "Our Day Will Come" gleich in die Riege bildgewaltiger und zorniger französischer Regie-Berserker wie Mathieu Kassovitz („Hass"), Gaspar Noé („Irreversibel") oder Jan Kounen („Dobermann", „39,90") katapultieren würde. Doch sein Debüt „enttäuscht" solche Erwartungen: Statt eines schnellen, brutalen Ritts im Stile von Gavras‘ Videos, entpuppt sich „Our Day Will Come" als schräges Road-Movie mit seltsam verquerem Humor, unsympathischen Protagonisten und einer fragmentarischen Story – ein eigenwilliger, aber äußerst reizvoller Kinoeinstand.

    In der Welt von „Our Day Will Come" gibt es kein größeres Stigma als rote Haare. Rotschöpfe wie der jugendliche Rémy (Olivier Barthélémy) werden nach allen Regeln der Kunst gehänselt und verspottet. Dabei ist das Leben in der nordfranzösischen Provinz auch so schon die reinste Hölle: Zwischen kleinbürgerlich-freudlosem Puritanismus, miesen Zukunftsaussichten, Arbeitslosigkeit und dem sonntäglichen Bolzen auf dem Fußballplatz hat das Leben wenig zu bieten. Als es Rémy nach einem besonders miesen Tag zu bunt wird und er den Psychoterror seiner versoffenen Mutter (Mathilde Braure) und der gehässigen Schwester nicht mehr erträgt, sucht er das Weite. Wenig später trifft er auf den ebenfalls von Ekel übermannten Dorfpsychologen Patrick (Vincent Cassel), der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihn animiert, sich den Terror der Mitmenschen nicht länger gefallen zu lassen. Da er Rémy intellektuell weit überlegen ist, manipuliert er den unbedarften Außenseiter zu Grenzüberschreitungen aller Art und überredet ihn, zusammen das Rothaarigen-Paradies Irland aufzusuchen. Der gemeinsame Trip wird zu einer Amokfahrt, die kein gutes Ende nehmen kann.

    „Our Day Will Come" wirkt, als wäre er nicht nach einem Drehbuch, sondern nach spontanen Launen entstanden. Einen roten Faden sucht man hier ebenso vergebens wie eine tiefere Bedeutung. Was wie eine Außenseiterballade anfängt, entwickelt sich bald schon zu einem bösen Road-Movie. Vincent Cassel („Hass", „Black Swan") spielt mit bestechender Wucht ein lebensüberdrüssiges Charakterschwein, das sich einen Jux daraus macht, den höchst unsicheren Rémy zu Dummheiten zu verführen. Mitleid mit dem jungen Mann kommt dabei jedoch nicht auf, da Olivier Barthélémy („Largo Winch 2", „Sheitan") seinen sozial mehr als unbeholfenen Rotschopf als derart hohle Nuss anlegt, dass es kaum möglich ist, ihn als Helden zu akzeptieren. Mehr als einmal fühlt man sich an die belgische Unterschichten-Groteske „Ex Drummer" erinnert, aber anders als Koen Mortier, der hinter seinen Exzessen eine klare moralische Agenda verfolgte, scheint Gavras die Welt herzlich egal zu sein. Je länger der irre Trip dauert, desto mehr wird sein Film zu einer losen Nummernrevue mit immer seltsameren Situationen. Wenn Patrick und Rémy gemeinsam mit ein paar am Wegesrand aufgegabelten Jugendlichen mit Minirollern durch einen Baumarkt cruisen, wenn ein jüdischer Autohändler mit perfiden Mitteln zur Herausgabe seiner Schmuckstücke genötigt oder ein Luxushotel aufgemischt wird, wenn zwei Rapper in den Dünen nordfranzösischer Badeorte zeigen, was sie NICHT können, ist der Ekel, den Gavras und seine Helden vor dem Leben in modernen Industrienationen verspüren, nicht zu übersehen.

    Ein Ekel, der sich allerdings nicht in betont drastischen Szenen äußert: „Our Day Will Come" ist kein Film der Attraktion, sondern ein Werk der Verweigerung. Romain Gavras denkt gar nicht daran, sein Publikum mit exzessiven Bildern zu schockieren und aufzupeitschen. Der Regisseur lehnt sich eher an die Tradition verschrobener Satiriker wie Claude Faraldo („Themroc"), Marco Ferreri („Das große Fressen") oder den frech-konfrontativen Peter Fleischmann („Jagdszenen aus Niederbayern") an. Er schlägt nach links, tritt nach rechts und traktiert den guten Geschmack mit Kopfnüssen, bevor das Schlussdrittel schließlich zu einem bedrückenden Kampf ums Überleben im Brachland von Dünkirchen wird. Nachdem Gavras' kantige Antihelden mehr und mehr ihr zivilisiertes Selbst zurückgelassen haben, wirkt „Our Day will come" plötzlich wie ein Endzeitdrama. Spätestens nach diesem Schluss, mit dem Gavras erneut alle Erwartungen unterläuft, mag manch einer den Film als verqueren Genre-Mix und reine Fingerübung betrachten, man kann ihn aber auch für ein Meisterwerk halten. Sicher ist, dass dies trotz offener Fragen und loser Enden eine der faszinierendsten Filmerfahrungen der jüngeren Vergangenheit ist, die sich allein schon für den völlig von der Leine gelassenen Vincent Cassel und die beeindruckenden Bilder hypnotischer Hässlichkeit lohnt.

    Fazit: Mit „Our Day Will Come" wirft Clip-Regisseur Romain Gavras seinem Publikum einen unverdaulichen Brocken konfrontativer „Unterhaltung" in den Rachen, an dem sich mancher Zuschauer verschlucken wird. Was bleibt, ist jedoch eine intensive und nachhaltige Filmerfahrung - so oder so.

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