Mit „Rückenwind“ hat Regisseur Jan Krüger im Panorama der Berlinale 2009 seinen zweiten Spielfilm vorgestellt. Wie in seinem Langfilmdebüt „Unterwegs“ steht auch in Krügers neuem Werk formal und inhaltlich das Motiv der Reise im Mittelpunkt. „Rückenwind“ ist aus einer vagen Idee entstanden, gedreht wurde er innerhalb von nur zwei Wochen ohne Drehbuch in der brandenburgischen Provinz. Krüger ist zu diesen Dreharbeiten wie die Protagonisten seines Films als Suchender aufgebrochen, innere und äußere Bewegung spiegeln einander und bedingen sich gegenseitig. Mit einem sehr kleinen Team, aus dem vor allem die wunderbare Kamerafrau Bernadette Paaßen eine besondere Erwähnung verdient, begab sich Krüger auf die Suche nach Bildern, in der Hoffnung auf besondere Momente und offen für alles, was sich gleichsam nebenbei ergeben könnte. Eine konventionelle Erzählung nach Drehbuch-Ratgeber bietet „Rückenwind“ also nicht. Dafür erlaubt er dem Zuschauer einen anderen Blick auf die Geschehnisse: Wie die Figuren des Films und wie der Regisseur muss sich auch der Betrachter auf Entdeckungsreise begeben und dem Vorgefundenen selbst etwas abgewinnen.
Das schwule Pärchen Johann (Sebastian Schlecht) und Robin (Eric Golub) unternimmt im brandenburgischen Nirgendwo einen Radausflug - ohne großen Plan ziehen sie einfach drauf los. Sie entfernen sich voneinander, finden wieder zusammen und gehen erneut entgegengesetzte Wege, verstecken und offenbaren sich. Als die Reise zunehmend ihr Ziel verliert, treffen die beiden auf eine Mutter, die mit ihrem Sohn mitten im Wald auf einem Bauernhof lebt. Dort bleiben sie eine Zeitlang und ihre Beziehung erhält neue Impulse. Und am Ende hat sie sich verändert, ganz unmerklich.
Der mit Märchenmotiven angereicherte Plot spielt in „Rückenwind“ eine eher untergeordnete Rolle. Wie in der Handlungsskizze angeklungen, reflektiert die spontane Tour der beiden Protagonisten auch die Herangehensweise Krügers an den Dreh des Films. Am Anfang werfen Johann und Robin einen kurzen Blick auf eine mitgebrachte Landkarte. Die Kamera schwenkt darüber, ohne dass etwas zu erkennen ist. „Lass uns einfach da lang fahren.“, meint Robin, der zunächst die treibende Kraft ist. „Und gucken, was passiert.“, könnte man hinzufügen und würde damit Krügers filmisches Konzept in Worte fassen, dem die hervorragenden Darsteller mit natürlichem und jederzeit flexiblem Spiel Rechnung tragen. Die Reisenden improvisieren und lassen sich von Zufällen leiten: Unverhofft kommen sie an einem See vorbei, wo sie sich waschen können und an einem Bauernhaus, in das sie einkehren; die Zeltstangen wurden vergessen, also benutzt das Duo die Plane einfach als Decke. Analog zu Krügers und Paaßens Einsatz der Filmkamera machen die Protagonisten zudem Momentaufnahmen mit ihren Fotoapparaten.
In „Unterwegs“ und auch in „Freunde“, seinem Abschluss-Kurzfilm an der Kölner Kunsthochschule für Medien, hat Krüger den Versuch, authentische Bilder durch Improvisation und Zufall zu finden, noch radikaler umgesetzt. Da gab es den Stuhl, der plötzlich und scheinbar ganz unvermittelt zusammenkrachte oder den Rauch der Zigarette, der durch eine glückliche Fügung genau ins Auge der Hauptfigur stieg und Krüger zu einem kleinen wahrhaftigen Augenblick auf der Leinwand verhalf. In „Rückenwind“ wird dieses Konzept an manchen Stellen aufgelockert, aber nicht aufgegeben. Jan Krüger und Bernadette Paaßen arbeiten in vielen Szenen mit einem Stativ, legen also im Voraus eine bestimmte Perspektive der Kamera fest. Sie inszenieren auf diese Weise mitunter betörend schöne Bilder wie die Aufnahme einer breiten Straße, die wie eine Landebahn aussieht. Auch sonst sind Krügers inszenatorische Eingriffe diesmal stärker und offensichtlicher: Er lässt Johann zu Beginn und am Ende des Films aus dem Off sprechen und setzt recht viel Musik ein, wobei er nicht immer ein glückliches Händchen besitzt. Sehr gelungen ist dagegen der offensive Einsatz von vorgefertigten Sounds auf der Tonspur, und auch die assoziative Montage einer Liebesszene im Off ist eine interessante Abweichung von der bisher angewandten Methode.
„Rückenwind“ bewegt sich zwischen den entgegengesetzten Polen, die im klassischen Gegensatzpaar von realistischer und expressionistischer Filmtheorie ausformuliert wurden, hin und her. Die Auffassung vom Kino als „Fenster zur Welt“, als Medium scheinbar reiner Abbildung der Wirklichkeit und die Idee vom konstruierten Spiel, vom Film als Ausdrucksform durch Inszenierung: beides kommt bei Krüger zum Tragen. Mal mehr und mal weniger glücklich verbindet er Gefundenes und Gemachtes. „Rückenwind“ ist oft schön und wahrhaftig, manchmal aber auch prätentiös. Ein Gefühl von Erhabenheit lässt sich eben nicht aufzwängen. Im Off-Kommentar bemüht Krüger die alten Fabelhelden Fuchs und Hase und erhebt die Geschichte zu einer Parabel, was aber letztlich ebenso verzichtbar ist wie der Einsatz eines Händel-Duetts, das sich störend über die ansonsten so gelungene Einstellung mit der breiten Straße legt.
„Rückenwind“ fordert den Zuschauer zu eigenständiger Reflexion heraus und lässt ihm dazu auch meist die nötige Freiheit. Allerdings fruchtet Krügers Konzept nicht immer, manchmal scheint der Regisseur seinem Material eine tiefere Bedeutung regelrecht abtrotzen zu wollen und beschneidet den erwähnten Freiraum. Seine stärksten Momente hat „Rückenwind“ jedenfalls außerhalb solcher gezwungener Bemühungen um Poesie. Die stärksten Wirkungen ergeben sich vielmehr wie nebenbei, scheinbar durch Zufall. Obwohl Krügers Methode zuweilen unübersehbar an Grenzen stößt, steckt „Rückenwind“ voller schöner, interessanter und bestechender Momente.