Mit sechzig fängt das Leben erst an, mit dreißig ist es schon halb vorbei! Der dreißigste Geburtstag, der Tag, an dem die zwei durch die drei ersetzt wird, ist ein gefürchtetes Datum: Jetzt müssen Nägel mit Köpfen gemacht werden! Dieses Gefühl beschlich auch Marko Doringer, als er mit 30 Jahren feststellte, dass er weder Freundin noch Job, weder Ziele, noch „etwas in der Hand“ hatte, dafür aber zwei abgebrochene Studiengänge und einen verlorenen Backenzahn. Also machte er sich mit seiner Kamera auf den Weg, um sein bisheriges Leben zu bilanzieren und eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Herausgekommen ist mit „Mein halbes Leben“ ein humorvolles, unterhaltsames und verflucht wahres Porträt eines jungen Mannes und seiner Generation, das sicher auch von der dramaturgischen Beratung des versierten Dokumentarfilmers Andreas Veil („Black Box BRD“, Die Spielwütigen) profitiert.
Auf seiner Identitätssuche trifft Doringer verschiedene Menschen aus seiner ersten Lebenshälfte, die ihm alle bereitwillig aus ihrem Leben erzählen: Neben seinen Eltern besucht der Filmemacher auch seine Ex-Freundin, alte Bekannte und seinen Bruder. Die Protagonisten breiten in Interviews und – gleichsam nebenbei – vor der beobachtenden Kamera ihren Lebensweg aus und geben Doringer ganz unterschiedliche Ratschläge für seine Zukunft - Ratschläge wie diesen von seiner Mutter: „Das Leben ist ein ewiger Kampf. Und der hört nie auf.“
Die Interviewten sprechen immer direkt in die Kamera (die Fragen blendet der Film aus), wodurch „Mein halbes Leben“ an ein subjektives, hochgradig selbstreflexives Essay erinnert. Doringer selbst bleibt dabei im Hintergrund. Lediglich in den regelmäßig eingestreuten Therapiesitzungen tritt er vor die Kamera und erzählt seinem Therapeuten (also dem Publikum) von seinen Sorgen und Ängsten. Der Regisseur ist sich dabei immer darüber bewusst, dass sein Filmprojekt einem „Verkauf von Lebensgeschichten“ gleichkommt. In der Tat wirft sein radikales Dokumentarfilmprojekt eine Reihe ethischer und moralischer Fragen auf, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden können. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Doringer seine Protagonisten sehr sensibel porträtiert und sie zu keiner Zeit denunziert.
„Mein halbes Leben“ wäre nicht so spannend, würde sich der Film in den persönlichen Problemen und Zukunftsängsten des Regisseurs erschöpfen. Relevant wird das Projekt dadurch, dass es darüber hinaus als Porträt einer ganzen Generation funktioniert. Recht klar tritt das Problem der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Gegenwart in Erscheinung: Wie trifft man eine richtige Entscheidung, wenn beinahe alles möglich ist? Im Kontrast zu seinen Eltern, bei denen der Lebensweg noch recht deutlich vorgezeichnet war, tritt dieses Dilemma im Lauf des Films immer deutlicher zu Tage. Was sich recht banal liest, beinahe wie eine Bionade-Diskussion zwischen Neon-Lesern, kommt durch die gänzlich undidaktische und lebensnahe Qualität von „Mein halbes Leben“ einer soziologischen Analyse gleich. Innerhalb von Doringers Biografie wird dieses Wesensmerkmal der Zeit in der Beziehung zu seinem Vater gespiegelt, der das schwammige Leben seines Sohnes nicht nachvollziehen kann, lag doch sein eigenes Leben immer klar vor ihm.
Am Ende gibt es für Doringer keine eindeutige Antwort, aber immerhin ist er jetzt ein Regisseur: Er musste „ganz einfach“ eine Entscheidung treffen. Ganz beiläufig ist ihm bei der Suche nach Antworten ein ebenso humorvolles wie präzises Porträt der 30-Somethings gelungen und eine lakonische Analyse des Dilemmas unserer Zeit.