Mitunter sind Filme wie gute Weine: Sie müssen reifen. Aber nur selten gelingt dieser Prozess in den Giftschränken der Studios. Dort nämlich lagerte der bereits 2006 abgedrehte Epidemie-Thriller „Carriers“ der spanischen Brüder Alex und David Pastor mehrere Jahre ohne eine realistische Aussicht auf Verwertung. Doch Zeiten ändern sich. Da kommt nach der Vogel- auch noch die Schweinegrippe um die Ecke und versetzt die Weltgesundheitsorganisation WHO so sehr in Panik, dass sie eine weltweite Pandemie ausruft. Und wer hätte vor drei Jahren gedacht, dass ein gewisser Chris Pine, der bis dahin nur durch Belanglosigkeiten wie Zum Glück geküsst oder Plötzlich Prinzessin 2 aufgefallen war, plötzlich die Hauptolle in einem der heißesten Franchises des Planeten besetzen und seine Sache als Captain James T. Kirk im Star Trek-Reboot auch noch überraschend gut machen würde? Also hat Paramount den Film nun schwuppdiwupp wieder aus der Schublade gefischt und in Rekordzeit einen Kinostart angepeilt. Ein solches Vorgehen zahlt sich für den Kinozuschauer erfahrungsgemäß selten aus, doch „Carriers“ ist eine der raren Ausnahmen. Der Film ist zwar nicht unbedingt originell, dafür aber ein superb inszenierter Genrebeitrag, der ein enormes Talent der regieführenden Pastor-Brüder andeutet. Und so mauserte sich die Produktion vom Hollywood-Giftmüll zum Eröffnungsfilm des prestigeträchtigen Fantasy Filmfests.
Ein Virus hat die Menschheit beinahe ausgerottet. Ein Ende der Epidemie ist nicht in Sicht, eine Heilung derzeit ausgeschlossen. Der impulsive Brian (Chris Pine), seine hübsche Freundin Bobby (Piper Pirabo), Brians kluger kleiner Bruder Danny (Lou Taylor Pucci) und dessen stille Schulkameradin Kate (Emily VanCamp) wollen flüchten und das Ende der Seuche an einem verlassenen Strand, den sie aus Jugendtagen kennen, abwarten. Doch der Weg dorthin ist extrem gefährlich, überall lauert die Gefahr, sich anzustecken. Das Virus überträgt sich durch die Luft und kann dort bis zu 24 Stunden existieren. Die wenigen Überlebenden fechten einen gnadenlosen Kampf aus, vor allem Benzin ist ein rares Gut, für das viele sogar über Leichen gehen. Nach einer Autopanne sind Brian, Bobby, Danny und Kate übel dran. Sie schmieden eine brüchige Allianz mit dem Familienvater Frank (Christopher Meloni), dessen kleine Tochter Jodie (Kiernan Shipka) infiziert ist. Er besitzt immerhin einen fahrtüchtigen Minivan, in dessen Kofferraum die beiden Aussätzigen hermetisch abgeriegelt unterkommen. Die Gruppe klammert sich an eine vage Hoffnung. Irgendwo in der Provinz soll ein Arzt erfolgreich einen Antivirus entwickelt haben…
Das Brüderpaar Alex und David Pastor gibt nach einigen Kurzfilmen mit dem Horror-Thriller „Carriers“ sein Langfilm- und Kinodebüt. Aber beinahe hätte kaum jemand das Werk tatsächlich zu Gesicht bekommen, was eine Schande gewesen wäre. Wie um Himmels Willen soll ein nicht unbedingt innovationsreicher Epidemie-Reißer von zwei Newcomern ohne Stars überhaupt vermarktet werden? Aber Chris Pine und die Schweingrippe haben diesem Dilemma den Garaus gemacht. Unabhängig davon hat sich „Carriers“ alle Aufmerksamkeit, die ihm jetzt zuteil wird, auch redlich verdient, denn die beiden Spanier können tatsächlich richtig gut inszenieren. Mit einem kleinen, aber feinen Regieeinfall ziehen die Filmemacher den Zuschauer während der Exposition gleich in den Film hinein. Der ahnungslose Betrachter glaubt auf einer harmlos wirkenden Ausfahrt der vier Protagonisten nichts Ungewöhnliches vor sich zu sehen. Da ist kurz von ominösen Regeln die Rede, die wohl zur Auflockerung des Trips dienen sollen, so vermutet zumindest der arglose Zuschauer. Mit einem einzigen Kameraschwenk, der ein kleines Mädchen mit einem blutverschmierten Mundschutz hinter einer Autoscheibe offenbart, kippt der Film von nun auf jetzt in ein verstörendes Endzeitszenario, in dem die Gesunden gegen die Infizierten zu Felde ziehen. Denn eines ist klar: Wer einmal das Virus in sich trägt, hat nur noch eine geringe Lebenserwartung von wenigen Tagen.
Episodenartig und ohne dramaturgische Schnörkel arbeiten sich die Pastors voran und lassen ihre Vierertruppe Situationen durchstehen, die für sich genommen so oder ähnlich sicher schon mehrfach in anderen Filmen verbraten wurden. Aber durch die sorgsame Inszenierung und eine schicke Optik verbinden sich diese Einzelszenen zu einer stimmigen Story – auch weil die Figuren interessant genug sind, damit sich der Zuschauer um sie sorgt. Auf den ersten Blick bestehen die Charaktere zwar nur aus den üblichen Klischees, aber so einfach gestrickt sind die vier zum Glück dann doch nicht.
Was „Carriers“ aber nachhaltig über den Genredurchschnitt hebt, sind diese dramatisch-emotionalen Momente, die an die Nieren gehen und unangenehme Fragen direkt an den Betrachter weitergeben. Was passiert, wenn sich ein Mitglied der Gruppe ansteckt? Wird es durchgeschleppt? Verstoßen? Oder auf der Stelle erschossen? Was macht die menschliche Seele, wenn sie droht, ausgelöscht zu werden? Die Pastors gehen in „Carriers“ mit dieser Fragenkonstellation sorgsam um und liefern eine Variation, die wie ein Schlag in die Magengrube wirkt und zugleich trotzdem berührt. Emotional besonders eindrucksvoll ist die frühe Episode mit Christopher Meloni (Harold And Kumar) und Kiernan Shipka (Die fast vergessene Welt) als Vater und Tochter.
Die Schauspieler leisten grundsolide Arbeit. Chris Pine (Smokin‘ Aces) als harter Macker mit Rückgrat und Lou Taylor Pucci (Fanboys, The Horsemen, Thumbsucker) als dessen intellektueller Bruder mit ungeahnten Führungsqualitäten schaffen es früh, die Zügel in die Hand zu nehmen. Aber auch Emily VanCamps (Ring 2) Charakter ist keineswegs so aalglatt gezeichnet, wie es zunächst den Anschein hat. Nur Piper Perabo (Eine Hochzeit zu dritt, The Cave, Coyote Ugly) muss den Konventionen im Allgemeinen und der Vorhersehbarkeit eines Drehbuchs im Besonderen ihren Tribut zollen.
Die Qualität der Episoden schwankt, die um einen menschenfressenden Hund erweist sich zum Beispiel als mehr oder minder überflüssig, weil dieses Szenario in der Filmgeschichte bereits deutlich überstrapaziert wurde. Aber das sind nur Nebensächlichkeiten, die den Film insgesamt nicht sonderlich schwächen. Der Goregehalt von „Carriers“ ist moderat. Die Pastors setzen immer wieder kleine Nadelstiche, ohne dem Zuschauer mit permanentem Blutgesudel auf die Nerven zu fallen. Die Stimmung ist angemessen düster und eine Moral von der Geschicht‘ offenbart der Horror-Trip noch obendrein. Doch die ist nur zwischen den Zeilen herauszulesen. Denn obwohl sich praktisch alles um die Seuche dreht, stirbt niemand offensichtlich daran. Stattdessen meucheln sich die Überlebenden gegenseitig nieder, was einen ebenso realistischen wie entlarvenden Blick auf die Erdenbürger frei gibt.
„Carriers“ lebt von seiner dichten Atmosphäre, immer neuen Handlungsanordnungen, die zwar nicht neu, aber fast immer interessant sind, und einem Look, der düstere Endzeitstimmung verbreitet, aber trotzdem morbide-elegant daherkommt. Entdeckenswert ist der Erstling der Brüder Alex und David Pastor allemal – auch wenn Überraschungen eher rar gesät sind.