1922 wurde auf dem abgelegenen Bauernhof Hinterkaifeck in Oberbayern eines der mysteriösesten Kapitel deutscher Kriminalgeschichte geschrieben. Ein bis heute nicht ermittelter Sechsfachmörder erschlug die Bauernfamilie Gruber und ihre Magd brutal mit einer Hacke und lebte nach der Tat noch mehrere Tage unentdeckt auf dem Hof. Zu neuer Popularität verhalf diesem grausamen Verbrechen jüngst Andrea Maria Schenkels Bestseller „Tannöd“ - ein Stoff, der geradezu nach einer Verfilmung schreit. Während Bettina Oberlis Tannöd erst im kommenden November im Kino startet, lehnt sich nun bereits Esther Gronenborns Mystery-Thriller „Hinter Kaifeck“ fiktiv an die schrecklichen Ereignisse an. Der Versuch, im Film Realität und Fiktion in Einklang zu bringen, scheitert aber trotz einer anfangs vielversprechenden Mischung aus Horror und Psychothriller. Zusätzlich unangenehm fällt das offensichtliche Abkupfern bei diversen Genre-Klassikern auf.
Den Fotografen Marc (Benno Fürmann, Anatomie, Nordwand) verschlägt es mit seinem Sohn Tyll (Henry Stange) in das abgelegene Dorf Kaifeck. Die junge Juliana (Alexandra Maria Lara, Vom Suchen und Finden der Liebe, Der Untergang), die den beiden in ihrer Scheune ein Quartier bietet, erzählt von dem düsteren Geheimnis, das den Ort umwittert. Marc durchlebt bereits in der ersten Nacht schreckliche Alpträume, die ihn an den grauenhaften Schauplatz der Morde führen. Fortan spürt er eine geheimnisvolle Verbindung zu den Geschehnissen und gerät immer tiefer in den Sog der dunklen Vergangenheit. Auch Julianas sterbende Großmutter Alma (Erni Mangold, Anonyma), die ein auffallendes Interesse an den zwei Fremden hegt, scheint in enger Verbindung mit dem grausamen Verbrechen zu stehen. Als Marc auf eigene Faust Nachforschungen anstellt, gerät nicht nur sein eigenes Leben in Gefahr, sondern auch das seines Sohnes...
Wer Wert auf historische Genauigkeit und die authentische Zeichnung von Lokalkolorit legt, dem sei von „Hinter Kaifeck“ zunächst einmal dringend abgeraten. In einem abgelegenen oberbayerischen Örtchen sollte man doch schließlich erwarten, dass sich zumindest die Dorfältesten im entsprechenden Dialekt unterhalten. Doch weit gefehlt: Alle Einheimischen plaudern in lupenreinem Hochdeutsch. Das wäre sicherlich zu verschmerzen, wäre da nicht zugleich der deutlich überstrapazierte Inselcharakter des Dorfes, in dem die Zeit offenbar stehen geblieben ist. Während andernorts fleißig getwittert und gechattet wird, trifft man sich in Kaifeck kollektiv zum Gottesdienst und vertreibt beim traditionellen „Perchtenlauf“ in furchterregenden Kostümen böse Geister. Parallelen zu M. Night Shyamalans umstrittenem Mystery-Thriller The Village sind nicht von der Hand zu weisen, und auch bei Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen und Roman Polanskis Rosemaries Baby bedient sich das Drehbuch relativ unverhohlen. Wenngleich die etablierten Stilmittel durchaus Wirkung erzielen und der Film mit einem passablen Spannungsaufbau punktet, hätten die Filmemacher sich stärker an den Fakten orientieren sollen, statt der Geschichte rote Mäntel und diabolische Neugeborene anzudichten.
Die wenig überzeugende Skizzierung des Dorfes personifiziert sich auch in Juliana, die seit ihrer Geburt in der bayerischen Provinz vor sich hin vegetiert. Da sie offenbar die einzige verbliebene Einwohnerin zwischen 14 und 49 ist, darf ihre ausgeprägte Verbundenheit zu Kaifeck stark bezweifelt werden. Dass die Rolle des weltfremden Mauerblümchens ausgerechnet mit dem attraktiven, weltgewandten Hollywood-Export Alexandra Maria Lara - in jüngerer Vergangenheit vorwiegend in Produktionen mit Oscar-Ambitionen (Der Baader Meinhof Komplex, Der Vorleser) zu sehen - besetzt wurde, erweist sich trotz ihres soliden Zusammenspiels mit Benno Fürmann als unglückliche Entscheidung.
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„Hinter Kaifeck“ setzt lediglich im ersten Filmdrittel Duftmarken. Das subtile Grauen, das von dem unheimlichen Hof und den angrenzenden Wäldern ausgeht, wird durch den gezielten Einsatz blau-grüner und brauner Farbfilter gekonnt hervorgehoben. Marcs nächtliche Visionen, die sich Schritt für Schritt zu Wahnvorstellungen steigern, verlieren aber zunehmend die Bodenhaftung und verkommen schließlich zu blanker Effekthascherei. Dass der Film schließlich in einem katastrophalen Finale gipfelt, ist die logische Konsequenz eines immer undurchsichtiger werdenden Potpourris aus blutigem Gemetzel, Stimmen aus dem Jenseits und vorhersehbaren Schockmomenten. Auch die Stilisierung eines ganzen Dorfes zu einem verschworenen Haufen durchgeknallter Irrer mündet beim Showdown in einem traurigen Höhepunkt voll unfreiwilliger Komik.
Fazit: Das zur Legende gewordene Massaker von Hinterkaifeck dient hier als Aufhänger für einen Mystery-Thriller, der seine vielversprechende Ausgangslage letztlich verschenkt. Bleibt zu hoffen, dass sich Bettina Oberlis Tannöd stärker an den realen Ereignissen orientiert und auf überflüssiges Beiwerk verzichtet.