Ceslova hat einen großen Traum. Einst hatte der nun gut vierzigjährige Litauer eine der ersten Werbeagenturen in seinem Land aufgemacht. Doch irgendwann reichte es ihm, dieses immer nur auf Lügen aufgebaute Geschäft. Also hat er schließlich ein großes Stück Land im Memeldelta, das er über alles liebt, erworben, auf dem er einen Hotel-Komplex errichten will. In Zukunft sollen dort zwei Hotels, ein Haus für Fischer und möglichst auch noch ein kleiner Leuchtturm entstehen. Das erste Hotel ist schon fertig, ein wunderschöner altmodischer Bau aus roten Ziegeln. Diese Ziegel sind mehr als hundert Jahre alt. Ursprünglich waren sie in den Häusern einer Kaliningrader Straße verbaut, die einst nur von Deutschen bewohnt wurden und die nun abgetragen worden sind. So lebt die Vergangenheit weiter und wird zu einem Teil der Zukunft. Letztlich träumt Ceslova also von weitaus mehr als nur von einer Hotelanlage. Er baut an einer Brücke aus dem Gestern ins Morgen, und das verbindet ihn mit dem deutschen Filmemacher Volker Koepp, der ihn in „Memelland“ porträtiert. Wie dessen frühere filmische Exkursionen ins ehemalige Ostpreußen ist auch diese Dokumentation ein eindrucksvolles impressionistisches Filmgemälde und damit eine wundervolle Annäherung an eine außergewöhnliche Landschaft und die Menschen, die für immer mit ihr verbunden sind.
Nachdem er zuletzt vor allem in der russischen Exklave Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, und im polnischen Masuren gefilmt hat, bereist Volker Koepp nun zusammen mit seinem Kameramann Thomas Plenert das litauische Ufer der Memel. In den vergangenen Jahrhunderten war diese Grenzregion mit ihrem Strom und dessen Delta, das schließlich in das Kurische Haff mündet, immer wieder Schauplatz von Kriegen und territorialen Streitereien. Mal herrschten im Memelland, das auch einmal „Preußisch-Litauen“ hieß und heute von seinen Bewohner meist „Klein-Litauen“ genannt wird, die Deutschen, mal die Russen, und nun sind es wieder die Litauer. Diese bewegte Geschichte prägt die oft von langen Pausen durchsetzten Gespräche, die Volker Koepp mit drei alt gewordenen deutschen Schwestern, einer jungen BWL-Studentin, einer lokalen Historikerin, den Beschäftigten einer großen Vogelwarte und mit Ceslova führt. Sie lastet auf den Menschen, eint sie aber auch.
Der Wind und die Wolken, der Fluss und die Felder – Volker Koepp und Thomas Plenert rücken sie immer wieder ins Zentrum ihrer langen, ruhigen Einstellungen. Sie spüren der Natur, ihrer Schönheit wie ihren Gewalten, nach. Das Erhabene und das Romantische sind in ihren einem fast schon annachronistischen Zeitverständnis verpflichteten Filmbildern – die Kamera verweilt meist länger auf einem Gesicht oder einer Spiegelung im Strom als heute üblich – genauso präsent wie das Profane. Koepp fängt die bezaubernde Anmut und einmalige Pracht eines kleinen Waldstücks oder eines kurz vor der Ernte stehenden Feldes kongenial ein. Aber er lässt sich nie blenden. Seine Sicht auf die Natur, auf noch weitgehend unberührte Landschaften genauso wie auf von Menschhand geprägte Landstücke, könnte nicht ferner sein von dieser so typisch deutschen Sentimentalität, die jeden Wald und jede Klippe gleich mythisch auflädt. Koepp bleibt einfach ein Realist, auch im Angesicht des Schönen, des Überwältigenden.
Den Menschen, denen er begegnet, nähert sich Volker Koepp mit dem gleichen untrüglichen Gespür für das Außergewöhnliche und der gleichen unsentimentalen Offenheit, mit der er auch die Natur betratet. Die Geschichten, die die deutschen drei Schwester, die es nie geschafft haben, ihr Heimatdorf zu verlassen, und nun Tag für Tag von morgens früh bis abends spät ihren kleinen Hof bewirtschaften, und die Vogelkundler, die in Sibirien aufgewachsene Historikerin und der einstige Untergrundkämpfer erzählen, sind Stücke und Fetzen einer sich jeder Vereinnahmung entziehenden Oral History. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind zwar unzählige Menschen aus dem Memelland weggezogen, erst aus politischen später dann aus wirtschaftlichen Gründen, aber trotzdem bleibt da eine Hoffnung. Aus ihren Worten und aus Koepps Bildern spricht eine ungeheure Gewissheit: Dieses Land wird auch die gegenwärtige Krise überstehen.