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    Drifter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Drifter
    Von Sascha Westphal

    Die Anspielungen und Verweise auf Uli Edels 1981 entstandenes Drogendrama Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und dessen Vorlage drängen sich geradezu auf. Deswegen gilt es, sie gleich zu Beginn aus dem Weg zu räumen. Natürlich sind auch die 16-jährige Aileen, der 23-jährige Angel und der 25-jährige Daniel, die Sebastian Heidinger für seinen Dokumentarfilm „Drifter“ eine Zeit lang beobachtet und begleitet hat, Kinder vom Bahnhof Zoo, die sich ohne festen Wohnsitz irgendwie durchschlagen und ihre Sucht durch Prostitution finanzieren. Aber Sebastian Heidinger schlägt einen ganz anderen Ton an, als das zum Bestseller gewordene Stern-Buch und seine von David-Bowie-Songs getragene Verfilmung. Der mal offene, mal leicht oder auch etwas besser kaschierte Sensationalismus und Voyeurismus, die in der Regel Geschichten von jugendlichen Ausreißern und Drogensüchtigen prägen, sind ihm allem Anschein nach genauso suspekt wie alle popkulturellen Ästhetisierungen und Stilisierungen. Er wirft einfach nur einen nüchternen Blick auf drei junge Menschen, deren Leben sich rund um den Bahnhof Zoo abspielt.

    Tagsüber, wenn sie durch die Straßen am Bahnhof Zoo streicht und hin und wieder ein paar Kleinigkeiten kauft oder auch stiehlt, Dinge, die zum Leben absolut notwendig sind, trifft sich Aileen immer wieder mit Angel. Sie sucht seine Nähe, wohl auch seinen Schutz. Einmal, als sie anschaffen gehen will, fragt sie ihn sogar, ob er sie begleiten würde. Doch das lehnt Angel ab. Das Risiko ist zu groß. Es sind zu viele Polizisten in Zivil unterwegs. Da könnte er ganz schnell wegen Zuhälterei verhaftet werden. Nachts ist sie dann meist mit Daniel zusammen. Sie beiden schlafen in einer Notunterkunft für obdachlose Jugendliche. Zusammen bilden die drei ein beinahe familiäres Familiengeflecht. Doch das zerreißt, als Aileen nach einer ärztlichen Untersuchung erfährt, dass sie eine schwere Hepatitis hat, und daraufhin in ihr Heimatdorf zurückkehrt…

    Sebastian Heidinger sammelt in seinem Langfilmdebüt Impressionen, die sich nach und nach zu einer Art von Geschichte zusammenfügen. Manchmal folgen Lebensbruchstücke eben auch einer gewissen Dramaturgie, doch das ist dann Zufall. Jenseits dieser Entwicklung, die sich während der Arbeit mit seinen drei Protagonisten einfach ergeben hat, verzichtet der 1978 geborene Dokumentarfilmer allerdings auf jeglichen Versuch, das Leben von Aileen, Angel und Daniel zu erzählen. Es gibt keine Interviews mit ihnen, keinen Off-Kommentar, der Informationen oder gar Interpretationen liefern würde. Auch die Vorgeschichte der drei bleibt ausgespart. Es geht hier eben nicht darum, wie ein Mensch in der kalten, brutalen Welt um den Bahnhof Zoo herum landet, und auch nicht darum, warum Jugendliche in die Sucht flüchten und zur Spritze greifen. Die meisten Erklärungen hierfür wären sowieso nur wieder Klischees, wiedergekäute Phrasen, wie sie ständig von Politikern und Sozialarbeitern, den Medien und den (selbsternannten) Experten geäußert werden.

    „Drifter“ - der Titel ist durchaus Programm. Nicht nur die drei Süchtigen lassen sich mehr oder weniger treiben, von einem Freier zum nächsten, von einer kurzfristigen Unterkunft zur nächsten und natürlich auch von einem Schuss zum nächsten. Heidinger Erstling treibt gleich mit ihnen mit. Eine klar vorgegebene Richtung gibt es nicht. Der Rhythmus ergibt sich aus dem der Straße. So kann Heidinger dem Publikum auf einzigartige Weise vermitteln, was es heißt, so zu leben wie Aileen, Angel und Daniel, und das ganz ohne Sensationalismus, aber auch ohne Sentimentalität. Die Kälte und Härte, die jeder der drei Tag für Tag aushalten muss, werden spürbar, und die Strategien, mit denen sie sich gegen sie wappnen, sichtbar.

    Einmal zeigt Heidinger, wie Angel bei einem seiner Freier ein Essen zubereitet: Schnitzel mit Erbsen und Möhren, Kartoffeln und Soße. Die Sorgfalt, mit der er alles auf den beiden Tellern anrichtet, steht in einem eklatanten Widerspruch zu seinem Leben und erzählt gerade deshalb so ungeheuer viel von ihm. Da ist eine Sehnsucht nach Normalität und Ordnung, die sich aber nur in kleinen Dingen erfüllen kann – eben beim Anrichten eines Abendessens oder auch beim Putzen einer öffentlichen Toilette. Diese Sehnsucht ist auch in Aileens und Daniels Leben allgegenwärtig. Sie offenbart sich darin, wie die 16-Jährige sich jede Nacht in ihrem Zimmer in der Notunterkunft einrichtet, und in der Art, in der Daniel sich auf einen Schuss vorbereitet. Gerade in diesen nüchtern beobachteten Momenten größter Verletzlichkeit beweist Sebastian Heidinger ein eindrucksvolles Gespür für die Macht der Bilder und des Kinos. Näher kann ein Film sein Publikum nicht an Menschen heranbringen, an denen es sonst meist einfach vorbeigeht.

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