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    Strange Days
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Strange Days
    Von Björn Helbig

    Einmal die Gedanken einer fremden Person denken, fühlen, was sie gefühlt hat – wäre das nichts? Die Idee, Erlebnisse eines anderen zu teilen, ist nicht neu und wurde in der Literatur und im Film schon mehrfach bearbeitet. Aber nicht jedes Mal ist das Ergebnis so überzeugend wie im Falle von Kathryn Bigelows „Strange Days“. Der düstere Science-Fiction-Thriller aus dem Jahre 1995 vereint in formidabler Weise sozialkritische Töne mit spannender Unterhaltung – und zeigt den damals noch wenig bekannten Ralph Fiennes in einer seiner frühen Glanzrollen.

    Kurz vor der Jahrtausendwende: Eine neue Technologie erlaubt es, die Erlebnisse von Menschen aufzuzeichnen und wieder abzuspielen. Egal, was jemand zum Zeitpunkt der Aufzeichnung wahrnahm – demjenigen, der sie abspielt, wird es ermöglicht, daran teilzuhaben. Der heruntergekommene Ex-Cop Lenny Nero (Ralph Fiennes) dealt mit verbotenen Computerchips, welche die Wahrnehmungen anderer Menschen enthalten. Doch auch Lenny selbst kann die Finger nicht von den illegalen Aufzeichnungen lassen. Vor allem seit ihn seine Freundin Faith (Juliette Lewis) verlassen hat, schwelgt er in der Vergangenheit. Zumindest bis ihm ein Chip zugespielt wird, der äußert brisante Ereignisse birgt, die in der Lage wären, eine Revolution auszulösen: Eine Prostituierte beobachtet, wie der schwarze Sänger Jeriko One (Glenn Plummer) von Polizisten hingerichtet wird, die kurz darauf auch auf die Zeugin des Mordes schießen. Zusammen mit der Leibwächterin Mace (Angela Bassett) und seinem Freund Max (Tom Sizemore), einem Privatdetektiv, versucht Lenny, den Hintergründen auf die Spur zu kommen…

    Von seltsamen Tagen erzählt Kathryn Bigelow in ihrem Film. Doch ganz so seltsam sind sie eigentlich auch wieder nicht. Das Thema ist nicht neu. Die Speicherung von Gedanken ist schon seit längerem ein beliebtes Sujet der Science-Fiction. Philip K. Dick, John Brunner und Daniel Francis Galouye heißen die Wegbereiter; William Gibson, Neal Stephenson und Greg Bear sind die Protagonisten des sogenannten Cyberpunk, eines dystopischen Sub-Genres der Science-Fiction, dessen Geschichten düster und oft von starkem Pessimismus geprägt sind. In dem wahnwitzigen Roman „R.E.M.“ von Michael Marshall Smith ist es beispielsweise möglich, Träume von einem Menschen zum anderen zu übertragen. Auch im Kino wurden ähnliche Themen bereits mehrfach bearbeitet, etwa in Douglas Trumbulls „Brainstorm“ von 1983 mit Christopher Walken und Natalie Wood (Zu besagtem Film gab es 1998 sogar den erfolglosen Versuch eines Serien-Rip-offs, dem allerdings auch sein mit Bigelows Film identischer Titel „Strange Days“ nicht viel half.) Doch nach anfänglich sehr originellen Storys, die warnend und visionär zugleich waren, schossen Bücher und Filme des Genres zunehmend immer häufiger übers Ziel hinaus und ergötzten sich lieber an technischen Gadgets, anstatt dem Zuschauer eine anständige Geschichte zu erzählen. Einfallslos werden die üblichen Verdächtigen - Implantate und Extensionen des menschlichen Körpers, übermächtige Konzerne und Reisen in computergenerierte Realitäten - ohne Herz abgespult.

    Diesen Fehler macht Bigelow nicht. Im Gegenteil. Die Regisseurin zeigt viel Gefühl für die Figuren, die Story und stellt alle futuristischen Elemente streng in den Dienst der Sache. So verbindet sie Unterhaltung mit Anspruch und kombiniert dazu Elemente der Science-Fiction, des Film Noirs, des Krimis und des Liebesfilms. Bigelow zeigte schon in ihren früheren Filmen Near Dark, „Blue Steel“ und Gefährliche Brandung sowie in ihrem Beitrag zur Mini-TV-Serie „Wild Palm“ ihren Hang zu düsteren Stoffen. Auch in „Strange Days“ gelingt es ihr wieder ganz vortrefflich, in die Abgründe der Welt ihrer Protagonisten hinabzusteigen. Das Drehbuch schrieb sie zusammen mit James Cameron (Titanic), mit dem sie damals verheiratet war.

    Einen Glückstreffer hat sie mit der Besetzung des damals noch eher unbekannten Ralph Fiennes (Der englische Patient) gelandet, der nach Schindlers Liste, in dem der Schauspieler eindrucksvoll den Charakter des KZ-Kommandanten Amon Göth auslotete, mit seiner Darstellung des Lenny Nero wiederholt eine hervorragende Leistung abliefert. Mit von der Partie ist außerdem Angela Bassett (Contact, The Score), die für ihre Rolle der Leibwächterin Mace den Saturn Award bekam. Nicht unbedingt Oscar-reif, dafür aber gewohnt kaputt spielt Juliette Lewis (Natural Born Killers) Lennys Ex-Freundin Faith. An ihrer Figur, von der man bis zum Schluss nicht weiß, auf welcher Seite sie steht, wird vielleicht am besten die Ambivalenz des ganzen Films deutlich. Gleiches gilt für den auf zwiespältige Figuren abonnierten Tom Sizemore (Heat, Das Relikt), der Lennys besten Freund Max spielt, und Michael Wincott (The Doors), dem Bösewicht aus (The Crow). Wer spielt hier eigentlich welches Spiel?

    Immer wieder wird der Stoff, aus dem Filme und Bücher sind, von der Realität eingeholt. So ist beispielsweise vieles, was die bedrückende Zukunftsvision „1984“ schwarz malte, heute bereits Wirklichkeit geworden. Auch Bigelows düsteres Gesellschaftsporträt der Welt um die Jahrtausendwende hat sich mittlerweile in vielen Punkten bewahrheitet. Allerdings ist die Technologie, Gedanken eines anderen Menschen zu speichern und quasi wie eine DVD für andere Menschen erlebbar wieder abzuspielen, bisher natürlich nicht vorhanden und wird es wohl auch in den nächsten Jahren nicht sein. Inhaltlich funktioniert „Strange Days“ aber trotzdem sehr gut. Künstliche Realitäten sehen zwar auch heute noch nicht annähernd so real aus wie im Film, doch das ist auch gar nicht nötig. Schon die Möglichkeiten, die heute Spieleentwicklern zur Verfügung stehen, reichen vollkommen aus, um Menschen aus ihrer sozialen Umgebung abzukoppeln (siehe: „World Of Warcraft“), was die enorme Wirkungskraft virtueller Realitäten eindrucksvoll demonstriert.

    Fazit: „Strange Days“ ist eine sozialkritische Zukunftsvision, die geschickt Elemente verschiedener Genres kombiniert und mit einem grandiosen Hauptdarsteller aufwartet.

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