Den eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen zu können, weil sie nicht mit dem in Einklang zu bringen sind, was wir Realität nennen, ist eine verwirrende und verstörende Erfahrung. Mitten in einen solchen beängstigenden Zustand der kompletten Orientierungslosigkeit wirft uns der griechische Regisseur Alexis Alexiou in seinem Langfilmdebüt, dem Psycho-Drama „Tale 52“. Die Erlösung durch eine Erklärung verweigert er dabei konsequent. Die Aufklärung über die tatsächliche Geistesverfassung des Protagonisten und die wahren Absichten der anderen Figuren bleibt aus, der Zuschauer erfährt auch nicht, was sich wirklich und was sich nur scheinbar ereignet. Die auf die Spitze getriebene Verunsicherung mag manch einer unbefriedigend finden – visuell ist diese erzählerische Tour de Force jedenfalls packend.
„Wahrheit ist das, was nicht weggeht, wenn wir aufhören, daran zu glauben“, konstatierte der Altmeister philosophisch durchdrungener Science-Fiction-Literatur Philip K. Dick. Diese Erkenntnis hilft dem eigenbrötlerischen Iasonas (Yorgos Kakanakis) wenig, gerät er doch in eine Situation, in der er nicht mehr weiß, was er glauben kann und was nicht. Eine Dinnerparty ist der Auftakt für eine stürmische Beziehung zur attraktiven und selbstbewussten Penelope (Serafita Grigoriadou). Schnell zieht sie bei ihm ein und alles scheint perfekt für den menschenscheuen Architekten. Ihn peinigt lediglich rasendes Kopfweh, Medikamente lehnt er ab. Als ihn eine schier unerträgliche Schmerzattacke ereilt, zieht die fürsorgliche Penelope los, um ein Thermometer zu besorgen. Iasonas schläft ein und als er aufwacht, ist Penelope verschwunden. In der Wohnung deutet nichts mehr darauf hin, dass sie jemals dort gewesen ist. Die rätselhaften Vorwürfe einer gemeinsamen Freundin bringen den Verzweifelten vollends aus dem Gleichgewicht. Gab es Streit? Hat er der Geliebten Gewalt angetan? War vielleicht die ganze Romanze nur ein Phantasiegebilde?
Regisseur und Drehbuchautor Alexiou legt in „Tale 52“ verwirrend viele Fährten, von denen jedoch keine zum Ziel führt, vielmehr endet jeder Klärungsversuch in einer Sackgasse. Zwanghaft springt er immer wieder an den gleichen Ausgangspunkt zurück, zu den letzten Momenten vermeintlicher Klarheit und Gewissheit. Durch die ständigen Wiederholungen wird das Geschehen nicht eindeutiger, sondern immer rätselhafter, der Protagonist fühlt sich zunehmend wie in einem düsteren Gefängnis, aus dem es trotz größter Anstrengungen kein Entrinnen gibt – eine Empfindung, die auch den Betrachter berückt.
Sowohl der Plot als auch die Gestaltung von „Tale 52“ erinnern an die Arbeiten von David Lynch, der mit Lost Highway ein ästhetisch brillant gestaltetes Meisterwerk der Vieldeutigkeit vorgelegt hat, dem er mit Mulholland Drive und Inland Empire ähnlich anspruchsvolle und verzwickte Werke folgen ließ. Alexiou ist aber kein reiner Epigone und besitzt durchaus eine eigene Handschrift. Durch die strenge Konzentration auf wenige Figuren und Schauplätze erschafft er eine klaustrophobische Atmosphäre, in der Iasonas fast völlig abgeschirmt von äußeren Ereignissen komplett auf sich selbst zurückgeworfen wird. Yorgos Kakanakis meistert diese schauspielerische Herausforderung überzeugend. Die Kamera von Christos Karamanis schleicht und irrt durch beengte Räume, in denen Licht und Schatten ein bedrohliches Eigenleben zu führen scheinen. Gnadenlos ist schließlich der Schnitt von Cutter Pano Voutsaras: Rückblenden werden zerrissen und Zeitebenen übersprungen, jegliche Linearität wird zugunsten des wahnhaft-subjektiven Bewusstseinsstroms zerstört.
Iasonas‘ Ringen um die eigene Erinnerung erweist sich zugleich als ein Ringen um die eigene Identität. Das verzweifelte und vergebliche Suchen nach einer rationalen Erklärungen und kausalen Zusammenhängen, die immer wieder bereits im Ansatz erstickt werden, ist selten in solcher Konsequenz auf der Leinwand zu sehen. Alexiou lässt sich vollkommen auf dieses Wahrnehmungsmuster ein und entwirft eine Welt voller kryptischer Zeichen, die Befindlichkeiten, aber keine fassbaren Bedeutungen transportieren.
Fazit: Mit seinem Erstling fordert Alexis Alexiou die Sehgewohnheiten des Zuschauers auf radikale Weise heraus, eine erzählerische Auflösung im konventionellen Sinne gibt es bei ihm nicht. Der Regisseur schafft auf dem schmalen Grat zwischen Innen und Außen ein fast halluzinatorisches Kinoerlebnis für entdeckungsfreudige Zuschauer, die bereit sind, sich rückhaltlos auf dieses Universum einzulassen.