Im Vorfeld des Kinostarts von Connie Walters RAF-Drama „Schattenwelt“ wurden Stimmen laut, die das Mitwirken des Ex-Terroristen Peter-Jürgen Boock als Co-Autor an dem mit 825.000 Euro aus öffentlichen Mitteln geförderten Projekt stark kritisierten. In diesem Zusammenhang fielen Begriffe wie „Blender“, „Wichtigtuer“ und „Bereuer vom Dienst“. Tatsächlich kann man nun den von Ulrich Noethen verkörperten Protagonisten Saul mit einiger Phantasie als Boocks geläutertes Alter Ego verstehen. Doch im Mittelpunkt des spannenden Dramas, das sich zwischenzeitlich auch freizügig bei den Mitteln des Thrillers bedient, stehen stets die Opfer. „Schattenwelt“ hat eine Haltung, die weit über die Einteilung in gut und böse, in Pop-Phänomen und Verbrecher hinausgeht. Damit hat er auch anderen RAF-Filmen wie „Baader“ von Christopher Roth oder Der Baader Meinhof Komplex von Uli Edel etwas voraus, weil diese sich mit dem Einstimmen in die popkulturelle Verklärung beziehungsweise mit dem historisch korrekten Abzählen abgegebener Pistolenschüsse begnügen.
Das ehemalige RAF-Mitglied Saul (Ulrich Noethen) hat 22 Jahre wegen der Beteiligung am Mord des Bankpräsidenten von Seichfeld im Gefängnis gesessen. Er selbst bestreitet noch immer, den tödlichen Schuss abgegeben zu haben. Seine Anwältin Ellen Weber (Tatja Seibt) hat ihm eine kleine Wohnung in einem anonymen Hochhauskomplex besorgt. Doch Saul kommt nicht zur Ruhe. Seine junge Nachbarin Valerie (Franziska Petri) drängt scheinbar zufällig in sein Leben. Sie ist es auch, die ihn dazu überredet, nach all den Jahren endlich wieder Kontakt zu seinem Sohn Samy (Christoph Bach) aufzunehmen. Auf der gemeinsamen Fahrt nach Berlin kommt es zum Eklat: Valerie zieht an einer Raststätte plötzlich eine Waffe und bedroht Saul. Sie entpuppt sich als Tochter des Gärtners, der damals bei der Ermordung des Bankers durch einen dummen Zufall auch ums Leben kam…
„Schattenwelt“ passt sich mit zunehmender Spieldauer immer stärker der Farbe seiner Bilder an. Die Kamera produziert von der ersten Szene an ausgewaschene, grauartige Aufnahmen, die sich zu Beginn nur schwer einordnen lassen. Erst mit der Zeit wird klar, dass sie lediglich die uneindeutigen Charaktere der Protagonisten spiegeln. Valerie ist weder hilfloses Opfer noch endet sie als kaltblütiger Täter, Saul wird weder reingewaschen noch bleibt er für alle Zeit ein Monster, der ermittelnde Beamte Decker (Uwe Kockisch) ist weder ein blütenreiner Superbulle noch ein korruptes Arschloch, nicht nur die Kinder der Ermordeten, auch die Kinder der Täter werden als Opfer anerkannt. Es sind die Zwischentöne, die Connie Walter interessieren. Deshalb ist es auch Quatsch, auf der Beteiligung von Boock am Drehbuch rumzuhacken. Er ist eben nur ein Einfluss, den Drehbuchautor Uli Hermann und seine Regisseurin mit ihren eigenen Ideen und Ansichten zu einem komplexen Ganzen vermischen. Wenn Boock sich, wie ihm vorgeworfen wird, mit dem Film „reinwaschen“ wollte, ist ihm dies nicht gelungen, weil sein Beitrag nur ein kleiner Teil einer vielschichtigen Reflexion ist, in die auch die Perspektive der Opfer und der Öffentlichkeit ebenso mit hineinspielen.
Es hilft zweifelsohne dabei, sich auf den Film einzulassen, dass „Schattenwelt“ neben aller Dramatik auch überraschend spannend geraten ist. Zu Beginn, wenn sich der Zuschauer über die genaue Figurenkonstellation noch im Unklaren ist, funktioniert das Drama in erster Linie als Thriller. Irgendwas stimmt mit dieser Nachbarin, die ihre Einkäufe ausgerechnet vor Sauls Haustür fallen lässt, nicht, aber was? Gerade Franziska Petri (Das Herz ist ein dunkler Wald) gelingt der Sprung zwischen den Genres dann ganz hervorragend. Spielend leicht wechselt sie in ihrer Darstellung der Valerie zwischen undurchsichtiger Femme Fatale, überfordertem Mädchen und dem Wahnsinn einer Frau, die in ihrem Leben genug gelitten hat, hin und her. Da tritt selbst Ulrich Noethen, der mit Rollen in so unterschiedlichen Filmen wie Bibi Blocksberg, Der Untergang und Ein fliehendes Pferd zu den wandlungsfähigsten Darstellern seiner Generation zählt, zwischendurch gerne mal für ein paar Minuten in den Hintergrund zurück, um dieser überragenden Leistung den gebührenden Platz einzuräumen.
Das Grau des Films fungiert als eine Farbe der Hoffnung, weil es eben kein Schwarz-Weiß ist, das die Schuldfrage abschließend und unwiderruflich beantwortet. Christopher Roth hat „Baader“ auch gedreht, um seinem Protagonisten ein Denkmal zu setzen. Bernd Eichinger hat „Der Baader Meinhof Komplex“ auch produziert, um der Glorifizierung der RAF etwas entgegenzusetzen. Bei „Schattenwelt“ gibt es kein „um“. Der Film ist eine Annäherung an ein komplexes Thema, der für alle Einflüsse offen ist und auf ein abschließendes Urteil bewusst verzichtet. In der letzten Einstellung, die ein klein wenig farbiger als die übrigen daherkommt, fährt Valeries Sohn auf seinem Fahrrad in ein Feld voller Sonnenblumen. Es ist keine offen fröhliche Szene, sondern – wie alle vorherigen auch – eine des Zweifels: Werden der Hass und der Schmerz wirklich mit der Kindergeneration enden, oder werden die Enkel der RAF-Täter und -Opfer noch genauso unter den Geschehnissen leiden wie ihre Eltern?