Eine Reise mit unbekanntem Ausgang führt vier unterschiedliche Menschen zusammen. In dieser geradezu archetypischen Konstellation liegen unendliche Möglichkeiten, aber es drohen auch viele Gemeinplätze und träge wiedergekäute Standardsituationen. Der französische Regisseur Sébastien Lifshitz hat diese Fallstricke weitgehend gemieden. Sein im Panorama der 60. Berlinale zu sehendes Roadmovie „Plein Sud“ ist ein intensiver Film, der zwar manchmal etwas unfokussiert ist, aber dafür unglaublich atmosphärisch: sinnlich, erotisch, zuweilen von einer berauschenden Leichtigkeit – gebrochen von Momenten großer Kälte.
Sam (Yannick Renier) hat eine Nachricht von seiner Mutter erhalten und sich im Auto auf den Weg nach Süden gemacht. Unterwegs hat er die Tramper Léa (Léa Seydoux) und Mathieu (Théo Frilet) mitgenommen. Die Geschwister haben jeder für sich ein Auge auf ihren schönen, aber schweigsamen Chauffeur geworfen. Doch Sam bleibt unnahbar. Die ohnehin schon angespannte Situation wird noch komplizierter, als Léa einen weiteren Anhalter, Jérémie (Pierre Perrier), mitnimmt und die drei Mitfahrer bemerken, dass Sam eine Waffe dabei hat. Was hat er vor?
Nicht alles an Sébastien Lifshitzs Film erschließt sich dem Zuschauer sofort. Doch mit dem Fortschreiten der Handlung verdichten sich die Hinweise auf Sams Vergangenheit und seine Mission. Auch zwischen den Reisenden, die sich im Laufe ihrer gemeinsamen Fahrt immer besser kennenlernen, verändert sich die Situation. Léa interessiert sich sehr für Sam, doch als sie merkt, dass ihr Bruder etwas für ihn empfindet, nimmt sie einen weiteren jungen Mann mit. Das Verhältnis zwischen den vier jungen Menschen ist geprägt von einem Gemisch aus Anspannung und Anziehung. Während Léa Jérémie schnell näher kommt, wehrt Sam die Annäherungsversuche von allen Seiten kühl ab. Je näher er seinem Ziel und dem Ende seiner Reise kommt, desto klarer wird aber auch, dass Sam seinen Mitfahrern nicht nur negative Gefühle entgegenbringt. Schließlich könnte er sie anderenfalls einfach hinauswerfen.
„Plein Sud“ enthält wie viele Roadmovies einige klassische Motive des Westerns wie den schweigsamen Helden, dem in seiner Vergangenheit Schreckliches widerfahren ist und der sich auf einen langen Weg durch das Land begibt, um Rache zu nehmen. Lifshitz adaptiert solche klassischen Elemente aber auf seine eigene Weise und so ist etwa die Atmosphäre seines Films kaum mit der eines typischen Rachewesterns zu vergleichen. Schon die ersten Szenen des Films geben den Ton vor: Wenn Léa für Sam tanzt, hat das eine wahnsinnige Sinnlichkeit, die bewusst mit der Kälte seiner Reaktion kontrastiert wird. Dieses Schema findet sich auch im weiteren Verlauf immer wieder – Anziehung und Abstoßung, Wärme und Kälte, Offenheit und Geheimnis, die Gegensatzpaare sorgen für ständige Spannung.
Zu Beginn ist nicht klar, wer eigentlich die Hauptfigur dieses Films ist, denn Regisseur Lifshitz schweift oft ab und stellt mal diesen und mal jenen Charakter in den Blickpunkt. Diese unfokussierte Erzählweise gibt dem Film eine gewisse (auch formale) Lockerheit, lässt ihn aber zugleich unkonzentriert und ausgefranst erscheinen. So beginnt „Plein Sud“ mit einer mysteriösen Szene mit Léa beim Frauenarzt, und es kann in jenem Moment davon ausgegangen werden, dass der Figur der jungen Frau innerhalb der Erzählung eine besondere Bedeutung zukommt. Diese Annahme erweist sich aber schnell als täuschend, erst ganz allmählich zeigt sich, dass es in erster Linie um Sam geht und um das persönliche Trauma, das er verarbeiten muss. Die Gründe für seine Verschlossenheit werden nach und nach enthüllt: In einer Rückblende sehen wir wie er als Kind den Selbstmord seines Vaters mit ansehen musste. Auch andere Erinnerungen Sams an die Vergangenheit werden so nach und nach ins Bild gesetzt. Die Szenen, in denen Sam einen Streit zwischen seinen Eltern durchs Fenster beobachtet, sind dann nicht nur ein Schlüsselereignis des Films, sondern ihre Bilder bleiben auch lange im Gedächtnis.
Letztlich kennzeichnet Lifshitzs Spiel der manchmal unvereinbar scheinenden Gegensätze auch den Film als Ganzes. Konzentrierte Szenen eines hochintensiven Familiendramas stehen locker aneinandergereihten, bisweilen erotisch aufgeladenen Momentaufnahmen eines sommerschwülen Roadmovies gegenüber. Und auch wenn die Quadratur des Kreises nicht ganz gelingt, steckt in der eigenwilligen Mischung aus Leichtigkeit und Schwere ein durchaus reizvoller Film über unterdrückte Gefühle.